TALKS RundUmschau RundUmschau#01

RundUmschau#01

In der RundUmschau widmen wir uns den internationalen Debatten und Neuigkeiten zum literarischen Übersetzen. Unsere Korrespondent∙innen unterrichten die Redaktion regelmäßig über die aktuelle Diskussion vor Ort. Im Januar erreichten uns drei Nachrichten – eine aus den USA von unserer Korrespondentin Tess Lewis, und zwei Berichte von Lídia Nádori und Gábor Schein aus Ungarn.

Tess Lewis berichtet über zwei kostbare Übersetzungsressourcen, die aus der pandemiebedingten Not eine digitale Tugend gemacht haben: die Tagung „Translating the Future“ und die Literary Translation Clinics.

Gábor Schein und Lídia Nádori haben sich für uns die Neuübersetzungen von Dantes Göttlicher Komödie und Victor Klemperers Kultbuch LTI – Notizbuch eines Philologen ins Ungarische angeschaut und geben uns damit einen Einblick in die aktuelle ungarische Übersetzungspolitik.

 

 

USA: Drei kostbare Übersetzungsressourcen

2020 ist den literarischen Übersetzer∙innen enorm viel verlorengegangen: Es fehlten die persönlichen Kontakte, der Austausch, die Vermittlung von Wissen und von Begeisterung für die Literatur. Doch die Übersetzergemeinde in den Vereinigten Staaten hat grandiose Initiativen gestartet, um diese Verluste auszugleichen und ein Gefühl der Gemeinsamkeit wiederherzustellen.

Das PEN Translation Committee hat im September 2020 anlässlich des 50. Jahrestages der legendären PEN-America-Tagung „Die Welt des Übersetzens“ eine Jubiläumsveranstaltung organisiert. Unter dem Titel „Translating the Future“ feierten die Übersetzer∙innen drei Tage lang ihre Zunft mit Reden, Gesprächen, Lesungen, Filmvorführungen und szenischen Lesungen zu künstlerischen, literarischen, sprachlichen und politischen Themen. Die Leitung übernahmen die Übersetzerinnen Allison Markin Powell (JP > EN) und Esther Allen (FR & SP > EN). Glücklicherweise wurde diese Feier des literarischen Übersetzens aufgezeichnet und ist damit nun für jedermann abrufbar. Es ist ein weitläufiges Archiv entstanden, durch das man sich klicken kann. Auch historisches Material und Aufnahmen von der Tagung aus dem Jahr 1970 sind auf der Website zugänglich.

Das zweite digitale Juwel sind die Literary Translation Clinics: 2021 veranstaltete das Übersetzerkollektiv Çedilla & Co. an jedem dritten Donnerstag des Monats im Center for Fiction in Brooklyn Online-„Sprechstunden“ für Nachwuchs- und etablierte Übersetzer∙innen. In den einstündigen Gesprächen wurden praktische Fragen beleuchtet, wie zum Beispiel: Wie verhandelt man einen Vertrag mit dem Verlag? Wie findet man seine eigene Philosophie des Übersetzens? Wie können wir übersetzte Literatur diversifizieren und neuen, oft überhörten Stimmen zur Geltung verhelfen? Auch diese Veranstaltungen wurden aufgezeichnet und sind nun online abrufbar.

Zudem sei auf eine Ende Januar 2022 beginnende Redeserie der Princeton University hingewiesen, die ausnahmsweise („dank“ der Pandemie) für alle online zugänglich ist. Das „Program in Translation & Cultural Communication“ der Princeton University hostet eine ‘lunchtime’-Serie von Reden (in Europa wohl eher ‘apero’) über verschiedene Aspekte des Übersetzens. Dabei wird ein breites Spektrum von Texten und Sprachen thematisiert, etwa Altgriechisch, Jiddisch, Farsi, Chinesisch, Spanisch, Tschechisch, Hebräisch und Telugu.

 

Ungarn: Neuübersetzungen von Dante und Klemperer – Ist neu immer besser?

1. Gábor Schein: Dantes Göttliche Komödie, neu ins Ungarische übersetzt von Ádám Nádasdy

Der 700. Todestag von Dante Alighieri wurde in Ungarn mit einer neuen Übersetzung der Göttlichen Komödie gefeiert – eine neue Chance für die heutigen ungarischen Leser∙innen dieses Klassikers der europäischen Kultur, denen die in 100 Gesängen verfassten poetischen Visionen fremd oder mindestens schwer verständlich vorkommen mögen. Der Übersetzer sieht sich hier vor eine schwierige Aufgabe gestellt: Er muss Entscheidungen fällen, die nicht nur die Aufgabe eines Übersetzers in dem konkreten Fall der Göttlichen Komödie betreffen, sondern auch das Originalwerk.

Dante war ein mehrsprachiger Autor. Er hätte seine kosmologische Dichtung auf Latein schreiben können; als Fürsprecher einer die norditalienischen Dialekte überbrückenden literarischen Sprache widmete er seine Komödie aber einem breiteren und weniger gebildeten Publikum. Inwieweit soll man dieses Vorhaben bei der Übersetzung eines zeitfernen, inzwischen vielfach klassisch gewordenen Werkes erreichen wollen? Wie kann man in ein altes, mit Staub bedecktes Zimmer Frische bringen, wenn man die Möbel und die ganze Architektur, die Atmosphäre behalten will? Hat Dante nur deshalb in Versen und Reimen geschrieben, um seinem Werk mehr Prestige zu verleihen? Inwieweit soll man heute dieser Konstruktion und dem zugrundeliegenden Weltbild, dem damaligen Bezugsrahmen mit all seinen Einzelheiten archäologisch und philologisch gerecht zu werden versuchen, und wann und wie muss man die vermeintlichen Erwartungen und Kompetenzen des breiteren zeitgenössischen Publikums berücksichtigen?

Diesen und anderen Fragen musste sich Ádám Nádasdy, der neue ungarische Übersetzer der Göttlichen Komödie, nicht nur in Bezug auf das Ganze, sondern auch auf einzelne Stellen des Werkes stellen. Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde Dantes Werk vollständig ins Ungarische übersetzt. Károly Szász legte 1899 eine Übersetzung in einem archaisierenden Ton vor, in Terzinen mit vorwiegend weiblichen Reimen, und ergänzte sie um einen wissenschaftlichen Kommentar. Seine Zeitgenossen bemerkten kritisch, dass die erste vollständige ungarische Übersetzung bei aller Schönheit an manchen Stellen jedwede Leichtigkeit vermissen lasse. Später zeigte sich auch, dass sie schnell veraltete, weil zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Moderne in die ungarische Literatur Einzug hielt.

Die zweite vollständige Übersetzung (1913) stammt von Mihály Babits, einem der bedeutendsten Dichter der ungarischen Moderne. Seine Übersetzung gilt bis heute als klassisch. Sie wurde immer wieder neu herausgegeben und von Generationen gelesen. Authentizität war auch für Mihály Babits wichtig. Er übersetzte Dante ebenfalls in Terzinen mit überwiegend weiblichen Reimen; wegen seiner poetischen Fähigkeiten und auch, weil die erste Welle der Modernisierung der ungarischen Literatur schon augenfällige und allgemein anerkannte Ergebnisse gebracht hatte, wirkte aber sein Ton viel leichter. Auch er erläuterte die für die damaligen Leser∙innen unklaren Anspielungen von Dante in Fußnoten. Dennoch, und obwohl Auszüge von Babits’ Übersetzung bis heute zur Pflichtliteratur in den Schulen gehören, konnte auch sie dem Schicksal aller Übersetzungen nicht entgehen. Im Lauf von hundert Jahren veraltete ihre Sprache immer mehr. Die Pferde einer Übersetzung traben schneller als die eines Originalwerks. Außerdem ist der Bildungshintergrund der heutigen Leser∙innen ein ganz anderer, als man ihn 1913 voraussetzen konnte.

Ádám Nádasdy zählt zu den bedeutendsten und beliebtesten Dichtern unserer Tage. Er ist auch als Sprachwissenschaftler weithin bekannt. Bis zu seiner Pensionierung war er Professor für englische Sprachgeschichte an der Eötvös Lóránd Universität Budapest. Auch hat er bereits Tragödien von Shakespeare neu übersetzt; das Ergebnis gilt als besonders bühnentauglich.

Ádám Nádasdys Text ist ausgesprochen leicht lesbar, fast wie ein Roman. In einem Interview sagte er, Dante hätte sein Epochenwerk in Prosa geschrieben haben können, wenn diese Textgattung schon damals den Respekt genossen hätte, den man ihr erst viel später entgegenbrachte. Bekanntermaßen ist Dante vielfach in Blankversen in andere Sprachen übersetzt worden, und Nádasdy hat damit als Shakespeare-Übersetzer reichlich Erfahrung. Im Fall der Göttlichen Komödie entschied er sich jedoch für eine Übertragung in freien Versen. Diese Entscheidung kommt der Verständlichkeit des Textes zugute, und er hat es damit auch sich selbst leichter gemacht, denn die Übersetzung entstand innerhalb kurzer Zeit. Die gereimten Terzinen sind allerdings im Originaltext nicht nur schmückendes Beiwerk, und sie verleihen ihm nicht nur einen rhythmischen Ton. Vielmehr zählen sie als symbolischer Verweis auf die Dreieinigkeit zum Wesenskern von Dantes Werk. Hinter den Formfragen verbirgt sich immer eine ganze Weltauffassung.

Was früher in der ungarischen Übersetzungstradition völlig undenkbar gewesen wäre – rhythmische oder metrische Texte der klassischen Tradition formal frei zu übertragen – kommt heute immer öfter vor. Dazu sei angemerkt, dass die ungarische Sprache vergleichsweise vielfältige Möglichkeiten des Reimens bietet, die bis heute nicht ausgeschöpft sind. Die zeitgenössische poetische Sprache verwendet Reime, d.h., es gibt im Ungarischen Formen des Reimgebrauchs, die gar nicht veraltet wirken. Auf der einen Seite hat die neue Übersetzung sehr an Lesbarkeit gewonnen. Auf der anderen verlor sie im selben Maße an dichterischem Glanz.

Insgesamt ist im übersetzerischen Umgang mit gebundener Sprache eine Tendenz zu beobachten: Das Gedachte, die Art des Meinens im Originaltext, tritt gegenüber ihren klanglichen Qualitäten in den Hintergrund. Bei Ádám Nádasdys Übersetzungen ist der Glanz weg. Das Gedachte scheint immer sehr klar durch, doch um den Preis zahlreicher Vereinfachungen. Egal, ob Nádasdy Shakespeare oder Dante ins Ungarische übersetzt – er beseitigt Fremdheit und Zeitferne des Originaltextes konsequent.

Seine Dante-Neuübersetzung hat bislang keine Debatte über die literarische Bilanz seines Vorgehens entfacht. Übersetzungsfragen werden in Ungarn selten offen diskutiert. Gegen oder für die neue ungarische Übersetzung der Göttlichen Komödie zu argumentieren, dazu braucht man fundierte Kenntnisse der alten italienischen Literatur, der Rezeptionsgeschichte von Dante und der Übersetzungsgeschichte, und darüber verfügen leider nur sehr wenige Übersetzer∙innen. Überhaupt wird in einer autoritären Kultur wie der ungarischen nicht gern kontrovers diskutiert. Und Ádám Nádasdy genießt große Autorität – zu Recht, weil er auch diesmal eine enorme Arbeit geleistet hat.

 

2. Lídia Nádori: Die Sprache der Macht damals und heute – die neue, verbesserte ungarische Ausgabe von Klemperers LTI, übersetzt von János Lukáts

Die Budapester Übersetzerin Lídia Nádori berichtet von einer besonderen Buchvorstellung, die Ende letzten Jahres in der ungarischen Hauptstadt stattfand. Präsentiert wurde eine neue, verbesserte ungarische Übersetzung von Victor Klemperers Kultbuch LTI – Notizbuch eines Philologen.

Das Werk hat in Ungarn eine ganz besondere Publikationsgeschichte. Der Übersetzer János Lukáts war Anfang der 1980er Jahre als Ungarischlehrer in Ost-Berlin tätig. Dort begann er an der Übersetzung des Buches zu arbeiten, denn er hoffte, in der deutschsprachigen Umgebung besser mit der Arbeit voranzukommen: Mangels entsprechender Lexika hatte er in Ungarn große Schwierigkeiten gehabt, die Realien und die typischen Formulierungen der Nazizeit zu verstehen. Die Fragen, die er stellte, stießen in Ostberlin jedoch auf eine Mauer des Schweigens: In der DDR traute sich niemand zu sprechen, aus Angst vor Provokation. Kein Wunder, dass es trotz seiner heroischen Bemühungen zu einigen Übersetzungsfehlern kam. Interessanterweise erlaubte damals die Zensur die Veröffentlichung des gesamten Textes; allerdings erschien das Buch in einer sehr kleinen Auflage – und wurde doch, oder gerade deshalb, schon damals ein Riesenerfolg. Die erste Auflage war bald vergriffen.

Die neue ungarische LTI ist das Debüt von Ampersand, einem neu gegründeten, unabhängigen Verlag in Budapest. Verlagsleiter Barnabás Kiss – der als ehemaliger Typograf für die einzigartigen grafischen Lösungen und die Umschlaggestaltung des Buches verantwortlich ist – erläuterte bei der Vorstellung des Buches, warum er sich für die Veröffentlichung der neuen Ausgabe entschieden hatte. Ihm war aufgefallen, dass Klemperers Thesen in den letzten zehn bis zwölf Jahren – in denen Viktor Orbán das faschistische und zugleich semi-feudale „System der Nationalen Kooperation” ausgebaut hat – immer häufiger in Gesprächen über die Manipulation der Medien und des öffentlichen Diskurses durch die politische Macht auftauchten.

„Ich denke, es ist ein grundlegendes Werk, um zu verstehen, was im 20. Jahrhundert passiert ist und was im 21. Jahrhundert noch passieren wird“, sagte Barnabás Kiss. „Um zu erkennen, dass wir mit ähnlichen Methoden und Versuchen konfrontiert sind. Und vielleicht ist das Buch deshalb so erschütternd, weil es eigentlich um nichts anderes geht als um die Sprache der Nazis. Es gibt keine Anspielungen oder erzwungenen Parallelen, der Leser kann sich die Parallelen selbst denken.” Aus dem letztgenannten Grund wollte Kiss weder im Nachwort noch im Klappentext einen Bezug zur Aktualität herstellen, denn eine Beschränkung auf die Gegenwart würde die Wirkung der ewig gültigen Aussagen Klemperers abschwächen.

Das Redaktionsteam der neuen Ausgabe hat hervorragende Arbeit geleistet. Die Fehler der sonst ausgezeichneten Übersetzung wurden nach akribischer Recherchearbeit korrigiert. Schlüsselbegriffe des Nationalsozialismus sind im Text rot hervorgehoben. Ausführliche Anmerkungen helfen den Leser∙innen, die Geschichte der Epoche zu verstehen. Nicht zuletzt ist das Buch reich mit Fotos und Plakaten illustriert.

Der Übersetzer János Lukáts wurde 1943 in Budapest geboren. Er studierte Literaturwissenschaft und Bibliothekswissenschaften. Vor und nach seiner Lehrtätigkeit an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin leitete er die Bibliothek des Forschungszentrums für Massenkommunikation in Budapest, das zu seiner Zeit (1969-1991) als eine der innovativsten Forschungsstätten des Ostblocks galt. Lukáts hat dreizehn Bücher veröffentlicht, vor allem Kurzgeschichten, aber auch Dramen, Gedichte und Essays. An der Übersetzung von Klemperers Werk arbeitete er mehrere Jahre. Über diesen Schaffensprozess berichtete er ausführlich in seinen Memoiren „Szerelmem, Kelet-Berlin” („Ostberlin, meine Liebe”, Budapest: 2019). Das Buch ist eine einzigartige Quelle für Forschungen zu politischen Implikationen und Rahmenbedingungen der Übersetzung und zum übersetzerischen Habitus.

14.01.2022
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