„Diese Menschen hoffen unentwegt“
Zur deutschsprachigen Werkausgabe des slowenischen Autors Slavko Grum (1901-1949)
Meine Beschäftigung mit dem slowenischen Prosaisten und Dramatiker Slavko Grum reicht zurück in meine Anfangszeit als Übersetzer in den frühen 1990er Jahren. Die Zeit für slowenische „Klassiker“ schien damals günstig, zumal es einen gewissen Aufschwung in der Vermittlung slowenischer Literatur gab und mit Autoren wie Srečko Kosovel, Ivan Cankar, Prežihov Voranc oder Vladimir Bartol bereits ein selektiver Bestand an Grundtexten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich war. Mit zunehmendem Wissen wurden aber auch die Lücken in der Vermittlung spürbarer. Ich selbst trat 1994 als Übersetzer Ivan Cankars (1876-1918) in Erscheinung, dessen „Literarische Skizzen aus Wien“ auf ein derart unerwartetes Interesse von Seiten der Rezensenten und der Leserschaft stießen, dass sich die damalige Leiterin des Drava-Verlags Helga Mračnikar zu einer intensiveren Zusammenarbeit mit mir entschloss und mir damit den Floh ins Ohr setzte, eine geliebte literarische Freizeitbeschäftigung zum Beruf zu machen.
Schon während der Vorbereitungen für den ersten Cankar-Band brachte mir eine Wiener Kollegin die Kurzprosa Slavko Grums nahe, von dem noch nichts ins Deutsche übersetzt war, obwohl wir fanden, dass er für die „Entdeckung“ eines slowenischen Autors der Zwischenkriegszeit im deutschsprachigen Raum wie gerufen kam. Wir machten uns also gemeinsam an die Übersetzung einer Handvoll dieser wirklich kurzen Texte und diskutierten eine ganze Weile darüber, wieviel Wörtlichkeit oder sprachliche Konvention sie vertragen würden. Über das Stadium der Übung sollte diese mit Ernst und Hingabe geleistete Arbeit nicht hinausgehen, sie schärfte aber meinen Blick auf Grundfragen des Übersetzens und sie weckte in mir den dringenden Wunsch, das Werk dieses Einzelgängers der europäischen Literatur irgendwann in seiner Gesamtheit zu übersetzen.
Dieser Wunsch war keineswegs naiv. Grum war kein Vielschreiber, sein literarisches Gesamtwerk findet in der 1976 publizierten kritischen Gesamtausgabe des Slowenischen Staatsverlags gerade einmal in einem Band Platz, prinzipiell wäre eine solche Werkausgabe also mit vergleichsweise geringem Aufwand an Zeit und Mitteln durchführbar gewesen. Außerdem schien durch die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Drava der Weg für eine weitere Klassiker-Ausgabe gebahnt. Ich begann also Ende 1996/Anfang 1997 in Eigeninitiative mit der Übersetzung von Grums Werk, und zwar mit den Stücken, die auf den erhaltenen Disketten mit Juni und Juli 1997 datiert sind. Die ältesten erhaltenen Textversionen der Prosatexte wurden im April 1999 abgespeichert – dem Jahr, in dem ich meinem Verlag die Texte für eine Grum-Werkausgabe anbot.
Es kam aber anders als gedacht. Der Verlag lehnte ab, und ich sollte in der Folge die Mühen der Ebene kennenlernen. Ich schrieb Verlag um Verlag an, ohne Erfolg. 2001 schickte ich das Übersetzungsmanuskript von Grums Stück Das Ereignis in der Stadt Goga zur Information an Dietmar Pflegerl, den damaligen Intendanten des Stadttheaters Klagenfurt, es konnte ja nicht schaden. Statt einer Antwort erhielt ich einige Wochen darauf einen Anruf vom Direktor des Wiener Burgtheaters Nikolaus Bachler, der zu meiner großen Überraschung eine Aufführung des Stücks in seinem Haus in Aussicht stellte! Zwei Telefonate mit Martin Kušej folgten, der sich über Stück und Übersetzung begeistert äußerte und davon sprach, dass das unbedingt inszeniert werden müsse; und weil der Wunsch halt ein Intrigant ist, klang das für mich schon alles ziemlich konkret. Zu einer Inszenierung kam es dann allerdings nicht. Ich bemühte mich in der Folge, die Stücke in einem Theaterverlag unterzubringen, bekam aber nicht einmal Antworten. Auch als Lesetexte waren die Stücke an keinen Verlag vermittelbar.
Fünf Jahr später endlich fand sich mit Christian Thanhäuser ein Verleger, der bereit war, zumindest die gesammelte Prosa zu veröffentlichen. Der wunderschön gestaltete Band ist 2006 unter dem Titel Das weiße Asyl mit Illustrationen von Christian Thanhäuser erschienen. Es gab eine Buchpräsentation im Schloss Puchberg bei Linz, die sehr gut besucht war, und einige Präsentationen in Wien. Volker Strebel schrieb damals in einer ausführlichen Rezension für literaturkritik.de etwas plakativ vom „slowenischen Franz Kafka“. Die Ausgabe bei Thanhäuser, 57 Jahre nach dem Tod des Autors, war jedenfalls die erste Publikation mit Texten Slavko Grums in deutscher Sprache.
Meine Bemühungen um eine Werkausgabe gingen indes weiter, und sie haben jetzt, 17 Jahre nach der gesammelten Prosa, ein Ende gefunden. Als ich Achim Zechner, dem Leiter des Klagenfurter Verlags Johannes Heyn, vor etwa zwei Jahren von Grum erzählte und vorschlug, die Prosa neu aufzulegen, äußerte er von sich aus den Wunsch, doch gleich alles zu publizieren, und er bot mir ideale Bedingungen für die Verwirklichung meines Uralt-Projekts. So kommt es, dass im April 2023 eine zweibändige Werkausgabe Slavko Grum in deutscher Sprache erscheint, die in enger und beglückender Zusammenarbeit mit dem Verlag zu einer sorgfältig redigierten und auch in gestalterischer Hinsicht sehr ansprechenden Ausgabe reifen konnte.
Slavko Grum: WERKE. Die Prosa | Die Stücke. Übersetzt aus dem Slowenischen und herausgegeben von Erwin Köstler. Verlag Johannes Heyn, 2023.
Die lange Verlagssuche erinnert in gewisser Weise an Grums eigene, sämtlich gescheiterte Versuche, zumindest seine Prosa in einem Erzählband zu veröffentlichen. Die Nicht-Wahrnehmung von Seiten der Verleger und der Kulturpublizisten bedingte das frühe Versiegen seiner schriftstellerischen Produktion vielleicht mit, aber nicht mehr. Als der schwer drogen- und alkoholsüchtige Grum mit 48 Jahren in der Isolierstation im Krankenhaus Zagorje an Krebs starb, war er als Autor längst verstummt. Man kannte ihn als einstigen Chefarzt der Banschaft Zagorje, am Grab wurde aber nicht einmal erwähnt, dass er auch Schriftsteller war, die slowenische Kulturpublizistik jener Zeit würdigte in den Nachrufen seine Literatur herab und überantwortete sie dem Vergessen. Erst posthum wurde er als Autor gewürdigt, sein Stück Das Ereignis in der Stadt Goga als Meilenstein der slowenischen Dramenliteratur erkannt, nach Grum ist bis heute der wichtigste slowenische Dramenpreis benannt. Umso befremdlicher wirkt es, dass dieser Autor so lange nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Er hatte halt keine Lobby, die ihm zu größere Bekanntheit auch außerhalb Sloweniens verholfen hätte.
Der slowenische Dramatiker und Prosaist Slavko Grum
Für meine Übersetzungen hatte die lange Suche jedenfalls ihr Gutes, denn sie führte dazu, dass ich die Texte alle paar Jahre revidierte und damit auch meine eigenen Zugänge zu Grums Werk überprüfte. In der Frühzeit meiner Beschäftigung mit Grum hatte die übliche literaturgeschichtliche Einstufung seiner Literatur als expressionistisch Einfluss auf eine Reihe übersetzerischer Entscheidungen, die ich aber bereits für die Ausgabe der gesammelte Prosa von 2006 hinterfragte; sie betreffen allgemein die Ökonomie und das Energieniveau dieser Texte, konkret etwa die Häufung syntaktischer Inversionen, die Bevorzugung von Verben und Ausdrücken hoher Intensität, den unvermittelten Wechsel hoher und niedriger Register, den Gebrauch von reflexiven Verben ohne entsprechendes Pronomen usw. Solche „expressionistische“ Verfremdungen empfand ich mit der Zeit als forcierte und überzogene Textelemente, weshalb ich mich zunehmend an einer konventionelleren, kommunikativeren sprachlichen Gestalt orientierte, um die Übersetzung nicht mit letztlich funktionslosen stilistischen Elementen zu überfrachten. Grundsätzlich habe ich jedoch darauf geachtet, Eigenheiten in der Diktion des Autors – nur bei Grum zu findende, sich wiederholende Wendungen, kontextbedingte syntaktische und lexikalische Eigenheiten und auch offensichtliche Härten im Gebrauch von Kollokationen und Zeiten – so weit wie möglich zu berücksichtigen, um dem Sound dieser beunruhigenden Texte gerecht zu werden und Grums Stil nicht über Gebühr zu „normalisieren“. An die Stelle einer gleichsam von außen an die Texte herangetragenen kategorischen Erwartung ist so (zumindest meinem Erleben nach) die Bemühung um eine ökonomische Textbehandlung getreten, die zwischen stilistischer Idiosynkrasie und der Reduktion auf funktionale Notwendigkeiten in einer Weise vermittelt, dass ein Abgleiten in sprachlichen und stilistischen Manierismus wo immer es geht vermieden wird.
Grums Stück Das Ereignis in der Stadt Goga wurde zweimal ins Tschechische übersetzt (ohne zu Lebzeiten je an einem Theater aufgeführt worden zu sein), seine Prosa teilweise ins Tschechische und Slowakische. Sämtliche Pläne Grums, seine Text über die Grenzen Sloweniens hinaus (etwa auch in anderen Teilen Jugoslawiens) bekannt zu machen, scheiterten. Nur eine einzige (nicht publizierte) Übersetzung ins Deutsche ist dokumentiert, und sie stammt von Grums eigener Hand: „Die Ratten“. Das fünfseitige Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen ist im Nachlass Slavko Grums an der Studienbibliothek Miran Jarc in Novo mesto erhalten und wurde mir für diesen Beitrag freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Laut Lado Kralj, dem Herausgeber der kritischen Gesamtausgabe von 1976, stammen die handschriftlichen Korrekturen von einem „unbekannten Helfer“, der das Typoskript für Grum durchgesehen hat; sie sind zum Teil erheblich und betreffen nicht nur grammatikalische und orthographische Mängel, sondern auch Wortschatz, Satzstellung und Register. Diese Selbstübersetzung aus dem Jahr 1929 verfolgte offenbar keine besondere ästhetische Absicht, sondern den rein pragmatischen Zweck, einen Text parat zu haben, den man auch einem deutschsprachigen Redakteur oder Verleger in die Hand drücken konnte. Grums unvollkommene Beherrschung des Deutschen als Literatursprache erklärt wohl gewisse „Wörtlichkeiten“ in der Übersetzung, aber auch Abweichungen vom Ausgangstext, z. B. Überhöhungen durch Steigerung der sprachlichen Intensität („povsem očitno se že sprehajajo po sobi“ [sie spazieren schon ganz offen im Zimmer herum] → vollkommen frei tollen sie im Zimmer herum), oder umgekehrt: Verflachung aus einem Mangel an Ausdrucksfähigkeit im Deutschen („kako so se praskale iz lukenj in se prašile ob stenah“ [wie sie sich aus den Löchern kratzten und die Wände entlang staubten] → woh [sic!] sie sich behutsam aus ihren Verstecken herausgewagt und dann an den Wänden leise fortbewegt haben). Was an Grums eigener Übersetzung in jedem Fall auffällt, ist die enge Anlehnung an die Stellung der Satzglieder im Originaltext, z. B. Voranstellung von Prädikativ, Objekt oder Adverbial:
Nicht die geringste Furcht kennen sie schon mehr, vollkommen frei tollen sie im Zimmer herum. [...] Ein ganz verkommener Mensch bin ich schon, ohne die geringste Notiz von mir zu nehmen laufen sie in der Wohnung herum. [...] Sicher muss es ihr sehr verdächtig vorkommen, dass es bei mir so viele Ratten gibt. [...] Etwas kommt so langsam auf, der Verdacht kommt auf im Hause. [...]
Seidene Strümpfe wird sie jetzt wohl tragen und geht zu den Männern in die Betten. Erbärmlich muss es sein, weil ihr die Männer immer so wiederwärtig [sic!] waren [...] Immer zahlreicher werden sie, nachts wimmelt es schon [...] Mit riesigen Schweifen sehe ich sie an den Kästen herumsteuern, grauen Säcken gleich hängen sie von dem Gemäuer herunter [...] usw. (1929, [1]-[2])
Diese Art der inversen Satzbildung ist zwar charakteristisch für den Prosastil Grums, sie wirkt im Slowenischen aber (und vor allem bei Wiederholung) weit weniger markiert und gekünstelt als im Deutschen, weil die Stellung der Satzglieder im Slowenischen grundsätzlich freier gehandhabt wird. Grums eigene Übersetzung liest sich deshalb streckenweise papieren und wie eine Interlinearübersetzung.
Wenn ich mit der ältesten mir noch verfügbaren eigenen Übersetzungsversion aus dem Jahr 1999 vergleiche, erkenne ich noch eine deutlichere Anlehnung an das syntaktische Muster des Ausgangstextes, zugleich fällt mir eine gewisse Neigung zu einer überhöhten Ausdrucksweise auf, die sich in einem teils antiquierten Wortschatz und in sprachlichem Pathos äußert:
Sie haben gar keine Angst mehr, sie spazieren schon ganz offen durchs Zimmer. [...] Ich bin ein völlig verkommener Mensch, ohne jede Rücksicht auf mich toben sie durchs Zimmer. Als wäre ich schon nicht mehr. […] Unlängst, als ich die Treppe hinabstieg, sah ich sie bei der Loge im Gespräch mit der Pförtnerin. [...] Man argwöhnt etwas, man argwöhnt etwas im Haus. [...]
[...] Arm muss sie sein, weil für sie Männer immer so abstoßend waren. [...] sie werden überall gleich nach mir sein. [...] usw. (1999, [1]-[2])
In der gesammelten Prosa von 2006 und in der jüngsten Version von 2023 beobachten wir dagegen eine Vereinfachung der Syntax und eine Senkung des Registers im Wortschatz:
Sie haben gar keine Angst mehr, sie spazieren schon ganz offen durchs Zimmer. [...] Ich bin ein völlig verkommener Mensch, sie toben ohne jede Rücksicht auf mich durchs Zimmer. Als wäre ich schon nicht mehr da. […] Vor kurzem, als ich die Stiege hinunterging, sah ich sie bei der Loge im Gespräch mit der Pförtnerin. [...] [...] Arm muss sie sein, weil für sie Männer immer so abstoßend waren. [...] sie werden überall gleich nach mir da sein. [...] usw. (2006, 115-116/2023, 167-168)
Ebenso wurde mit auffälligen Kollokationen verfahren, sofern sie keine kontextuelle Funktion erfüllten:
ein unzweifelhafter Geruch muss in meinen Kleidern sein (1999 [4]/2006, 117) → hängen (2023, 170)
kicherte mir ins Fäustchen, dass ich es so großartig ausgeführt hatte (1999, [4]) → hingekriegt hatte (2006, 118/2023, 170)
Diese ganz wenigen und selektiven Beispiele sollen nur andeuten, in welche Richtung sich die Vorstellung von der Textgestalt mit den Jahren oder richtiger: Jahrzehnten entwickelte. Die oben genannte ökonomischere Textgestaltung ist in der Ausgabe von 2006 zum Großteil bereits durchgeführt; für die Werkausgabe von 2023 wurden noch einige kleinere Änderungen dieser Art vorgenommen, z.B. in der Erzählung Tju:
- Ich heiße Selma.│Warum kam es mir befremdlich vor, dass sie Selma war? (2006, 46) → [...] dass sie Selma hieß? (2023, 85)
oder in der Erzählung Melancholie:
Einen Frack trägt er und eine rote Weste, und trotzdem er so schick gekleidet ist, [...] (2006, 113) → [...], und obwohl [...] (2023, 164)
Markantere Unterschiede werden sich feststellen lassen, wenn wir die Textfassungen der Stücke aus dem Jahr 1997 mit jenen aus dem Jahr 2023 vergleichen, sowohl in den Reden als auch in den teils erzählenden Regieanweisungen, aber das wäre Thema einer eigenen Untersuchung (die ausgedruckten Zwischenstufen mit meinen handschriftlichen Korrekturen und Anmerkungen sind jedenfalls erhalten). Im Übrigen gilt, was ich auch im Vorwort zur Werkausgabe zur Prosa geschrieben habe: „Die Änderungen [...] betreffen gewisse Überzogenheiten in der Diktion, die aus der ursprünglichen Einstellung des Übersetzers gegenüber einer als expressionistisch rezipierten Literatur resultierten und die aus dem Abstand und der Erfahrung von mehr als zwanzig Jahren teilweise forciert wirkten.“ Jetzt ist Grum in einer verbesserten deutschsprachigen Version zu lesen, die aufgrund der Tatsache, dass sie keine Konkurrenz zu fürchten hat, auch als die verbindliche gelten wird – zumindest für eine Weile.