Kannibalisches Übersetzen oder Zur Poetik der Einverleibung
Their words, too, fit to eat.
Rosmarie Waldrop
Im Jahr 1928 – genauer gesagt, 374 Jahre, nachdem der portugiesische Bischof Sardinha an der brasilianischen Nordostküste von wilden Indios gefangengenommen, gekocht, gebraten und verspeist worden war – veröffentlicht Oswald de Andrade sein «Anthropophages Manifest». Ein Jahrhundert nach der politischen Unabhängigkeit von Portugal wird das metaphorische Verschlingen europäischer Kunst und Literatur – und deren damit einhergehende Transformation in ein genuin ‹Brasilianisches› – als radikale Form des Widerstands gegen die nach wie vor wirksame kulturelle Vorherrschaft Europas zelebriert: «Unsere Unabhängigkeit wurde noch nicht ausgerufen»1, heißt es im «Anthropophagen Manifest». Auf dem Spiel steht nunmehr die kulturelle Unabhängigkeit, eine Identität, die nichts gemein hat mit Essentialismus, Nationalismus und Xenophobie, sondern die den Anderen inkorporiert statt exkludiert. Der Leitspruch des Kannibalen lautet: «Mich interessiert nur, was mir nicht gehört.»
Im Zentrum der Bewegung der Anthropophagie steht die Figur des rebellischen, widerspenstigen Kannibalen. Er ist das Gegenteil des idealisierten, unterwürfigen ‹bon sauvage›, wie er in der Romantik gezeichnet wurde. Der ‹böse Wilde› des brasilianischen Modernismus invertiert die Logik zwischen Kolonialisierten und Kolonisatoren: Er frisst zurück. Augenscheinlich mit großem Vergnügen verleiben sich die modernen Kannibalen der 1920er Jahre nicht nur europäische Kulturformen, gewürzt mit eigenen Traditionen, ein, sondern auch das Attribut des barbarischen Menschenfressers, wie es im kolonialen Diskurs über Jahrhunderte geprägt worden war. Anthropophagie ist sohin selbst ein kannibalischer Akt. Wesentlich performativ, tut sie, was sie sagt, Oder: Sie ist, was sie isst.
Der Topos des Kannibalismus, Gegenpol der Zivilisation und Rechtfertigungsgrund für die koloniale Ausbeutung der sogenannten Neuen Welt, wird zum Dynamit der Aufklärung, zum Fundament der sogenannten ‹brasilidade›, der brasilianischen Identität und Gesellschaft: «Nur die Anthropophagie eint uns. Gesellschaftlich. Wirtschaftlich. Philosophisch.»
Oswald de Andrade plädiert für die «Notwendigkeit einer anthropophagen Impfung». Mit anderen Worten, er fordert ein Antidot, eine Immunisierung gegen den westlichen Logos. Dieser ist ihm nichts anderes als ein «Konservenbewusstsein», ein finster-enges Bewusstsein, das sein Anderes – all jenes, was es nicht begreift – ausschließt. Das Gegenstück eines solchen Konservenbewusstseins ist, wie der brasilianische Dichter, Kritiker und Übersetzer Haroldo de Campos schreibt, eine «anthropophage Vernunft»2, eine transgressive, viszerale Vernunft, die sich weigert, «einen Geist ohne Körper zu denken», wie es im «Anthropophagen Manifest» heißt. Kannibalische Vernunft sucht sich all jenes einzuverleiben, was die Vernunft der Aufklärung negiert und tabuisiert: den Körper, das Mystische, den Wahnsinn, die Sexualität, die Glückseligkeit, das Weibliche, den Rausch, den Unsinn, den Nicht-Sinn – Herrn Galimathias3, der im «Manifest» kurzerhand gefressen wird –, und nicht zuletzt den Tod.
Kannibalische Vernunft ist Identifizierung mit dem Ausgeschlossenen und Verworfenen, mit all jenem, was keinen Sinn ergibt. Anstatt sich das Tabu vom Leib zu halten, wird es inkorporiert. Das «Anthropophage Manifest» ist ein Aufschrei gegen die großen Narrative der Eroberer und Demagogen, gegen die Geschichte, wie sie von den Siegern erzählt wird. Es verhöhnt die «Storchenmoral» der Europäer, ihre Sublimierungen, das Gesetz des Vaters und sein System das Tabus, nach Freud die Bedingung aller Kultur.4 Es richtet sich gegen den Katechismus und die Grammatik der Portugiesen, gegen die durchbuchstabierte und durchdeklinierte Welt der Europäer, gegen ihre kulturelle Dominanz, gegen ihren literarischen Kanon: «Nieder mit Goethe.»
Anthropophagie ist ein Angriff auf die Logik der Akkumulation, auf die ernste Arbeit der Vernunft. Vielleicht beharren die modernen Kannibalen deshalb auf der so schwer zu übersetzenden ‹alegria›5, der Ausgelassenheit, der Freude, Glückseligkeit. Gleich zwei Mal findet sich in Oswald de Andrades kurzem «Manifest» die Phrase: «Freude ist die Nagelprobe». An der Freude bemisst sich das neue Wertesystem der Anthropophagie. Es ist die nietzscheanische Freude am Unsinn, das Gegengift zu Resignation, die Störung im fatalen Getriebe von ‹Ordnung und Fortschritt›: «Bevor die Portugiesen Brasilien entdeckten, hatte Brasilien die Glückseligkeit entdeckt.»
Adriana Varejão. ‹De tapete› em carne viva (1999)
Anthropophagie ist also viel mehr als das Auffressen des Feindes. Es ist eine Kritik der Vernunft. Es ist das Heraufbeschwören eines anderen Lebens, der Entwurf einer Utopie: «Nieder mit der angekleideten und unterdrückten gesellschaftlichen Wirklichkeit». Das «Anthropophage Manifest» ist Anrufung des «Matriarchats von Pindorama», dem indigenen Namen für das Land Brasilien. Im Gegensatz zur patriarchalen Gesellschaft, die auf der Unterwerfung und Versklavung des Anderen beruht und jeglichen Appetit reglementiert, gründet es auf Glückseligkeit, dionysischer Sinnlichkeit, Einverleibung statt Ausschluss.
Bereits zwei Jahre nach ihrer Entstehung stirbt die Bewegung der Anthropophagie aufgrund persönlicher Verstrickungen und dem Militärputsch von 1930 einen jähen Tod. Ab der Mitte der 1960er Jahre indes feiert der kulturelle Kannibalismus auf allen Ebenen der kulturellen Produktion Brasiliens seine Wiederauferstehung: im Umkreis von Bossa Nova, dem Cinema Novo, der Tropicália-Bewegung, der Bildenden Kunst, im Theater, der Konkreten Poesie. Inmitten der immer repressiver vorgehenden Militärdiktatur wird die anthropophage Metaphorik zu einem Medium des Widerstands: die Ideen einer matriarchal-sinnlichen Gesellschaft und spielerischer kultureller Aneignung gegen Xenophobie, politische Repression und Zensur. Vornehmlich durch die Brüder Augusto und Haroldo de Campos sowie Décio Pignatari, dem Dritten im Bunde der übersetzenden Konkreten Poeten, hält die Metapher der Einverleibung auch Einzug in die Poetik: Anthropophagie wird zu einem poetologischen Modell kultureller Aneignung, zu einem Paradigma von Sprache, Kunst, Literatur und Übersetzung. Haroldo de Campos schreibt:
Die Oswaldʼsche Anthropophagie ist das Denken des kritischen Verschlingens des universalen kulturellen Erbes. Ihr Ausgangspunkt ist nicht die unterwürfige und versöhnliche Perspektive des ‹guten Wilden›, sondern die verwegene Sicht des bösen Wilden, Verschlingers des weißen Mannes, Kannibalen. Die Anthropophagie ist keine Unterwerfung (eine Katechese), sondern Transkulturation, besser: eine ‹Transvaloration› … Sie ist sowohl Aneignung als auch Enteignung, Enthierarchisierung, Dekonstruktion. Alles Vergangene, das nicht unseres ist, verdient es, verneint zu werden. Das heißt: verdient es, gefressen, verschlungen zu werden.6
Die kannibalische Einverleibungsrhetorik dient als Ausgangspunkt für ein Neudenken der eigenen Vergangenheit – und letztlich für ein Denken des Übersetzens als Medium der Wiederaneignung des europäischen Kanons. Das metaphorische Feld des Verschlingens des Anderen trägt dazu bei, die traditionelle hierarchische Beziehung zwischen Original und Übersetzung aufzubrechen und das Lesen und Übersetzen in seiner Potenz als (Selbst-)Kritik, als Transformation und Kreation zu propagieren.
«Tupi or not tupi, that is the question» – Mit dieser Formel aus seinem «Anthropophagen Manifest» wird Oswald de Andrade den Inbegriff des europäischen Weltschmerzes spöttisch in die brasilianischen Tropen übertragen. Es lässt sich deuten als ein Übersetzen, das Jahrzehnte später unter dem Etikett eines ‹kannibalischen Übersetzens› firmieren wird, ein Übersetzen, das sich von seinem Korsett der Unzulänglichkeit und Melancholie befreit und sich in einem triumphalen Gestus über das Original erhebt. Oswald de Andrade hält sich nicht einmal an das grundlegendste Gesetz des Übersetzens: von einer Sprache in eine andere zu wechseln. Wie Pierre Menard7 übersetzt auch er innerhalb ‹derselben› Sprache, in diesem Fall aus dem Englischen ins Englische. Shakespeare, der Repräsentant des europäischen Kanons schlechthin, wird in ein genuin Brasilianisches gewandelt: den indigenen Tupi, Inbegriff des Kannibalen.
In der Tat erscheint der kannibalische Ritus als ideale Trope, um den Prozess des Übersetzens nachzuvollziehen. Die Routen des Kannibalen, des Dichters und Übersetzers par excellence, zeichnen dieselbe Kartographie: aus sich selbst hinaustreten, durch den Anderen hindurchgehen, während man diesen zugleich durch einen selbst hindurchgehen lässt, bis man schließlich, mit all der Differenz, die der Andere in das Selbst einschreibt, selbst ein Anderer geworden sein wird.
‹Transkreation› lautet der von Haroldo de Campos geprägte und von der Anthropophagie genährte Neologismus, um zu verdeutlichen, dass Übersetzen schöpferische Transformation ist.8 Er folgt dem von Walter Benjamin angeführten Diktum von Rudolf Pannwitz, dass es die Aufgabe des Übersetzers sei, die eigene Sprache «gewaltig» von der fremden Sprache «bewegen» zu lassen.9 So sind auch die Transkreationen der Brüder Campos beispielhaft für die Umformung und Dehnbarkeit der eigenen Sprache.
Es gibt ein Gedicht von Konstantinos Kavafis mit dem Titel «Warten auf die Barbaren». Haroldo de Campos übersetzt es so, dass ganz deutlich die Stimme des brasilianischen Dichters Carlos Drummond de Andrade vernehmbar ist. Der Titel von Haroldo de Camposʼ Transkreation von Goethe – Gott und Teufel in Goethes Faust – ist ein klarer Verweis auf Glauber Rochas berühmten Film Gott und Teufel im Land der Sonne. Wenn Augusto de Campos John Donne übersetzt, tut er es nicht, ohne ein paar Zeilen eines allbekannten Sambas einzubauen, und auch der brasilianische Horaz wird mit Tanzschritten unterlegt.
Kannibalisches Übersetzen heißt, die eigene literarische Tradition in die Übersetzung hineinzumontieren, die eigene Vergangenheit zu verschlingen, zu verdauen, zu verwandeln: John Donne beugt sich den Rhythmen des Samba, Goethe dem Teufel. Ein neues Netz an textuellen Bezügen bildet sich, eine andere Kartographie ersteht: Brasilien muss neu entdeckt werden.
Tomie Ohtake / Haroldo de Campos. Akari - Álbum Yú-Gen (1998)
Anthropophagie als Metapher für den Prozess des Übersetzens vermag in den Tat zur Überwindung der melancholischen Implikationen und dem Gebot der Unsichtbarkeit beizutragen – zugunsten eines fröhlich-selbstbewussten, im Zeichen lustvoller Transformation stehenden Übersetzens, das darum weiß, dass sich der spezifische Zeit-Ort des übersetzerischen Subjekts nicht eskamotieren lässt.
Der kannibalische Übersetzer kennt keine Unterwürfigkeit unter ein vermeintlich stabiles Original. Weder leidet er an Minderwertigkeitskomplexen noch ist er nostalgisch. Vielmehr ist er ein Luzifer, der sich in einem triumphalen Gestus über das Original erhebt. Luzifers Motto lautet: non serviam. Im Nachwort zu seiner Übersetzung von Goethes Faust, das überschrieben ist mit «Mephistofaustische Transluziferation», schreibt Haroldo de Campos:
«Die kreative Übersetzung ist vom Teufel besessen, sie ist weder fromm noch will sie erinnern. Ihr Ziel ist die Tilgung des Ursprungs, die Auslöschung des Originals. Dieses vatermörderische Nicht-Erinnern nenne ich Transluziferation.»10
An dieser Stelle nun scheint Haroldo de Campos seine eigene Mission zu verfehlen, will er doch die Anthropophagie dezidiert als ‹Dekonstruktion› verstanden wissen. Doch den Teufel beschwören, den Ursprung tilgen, das Original auslöschen, den Text des Anderen kannibalisieren, um sich auf den Thron des Autors zu setzen – das ist nichts anderes als Destruktion, Vatermord, eine bloße Inversion der Machtverhältnisse anstatt ihrer Dekonstruktion.
Die Metapher des Kannibalismus scheint in die Aporie zu führen, weil sie die Gewalt, gegen die sie sich ursprünglich auflehnt, wiederholt. Das Schlagwort eines ‹kannibalischen Übersetzens›, mit dem die brasilianische Übersetzungswissenschaft belegt wurde, vermag letztlich weder Theorie noch Praxis standzuhalten. Und doch wäre es zu einfach, die Trope der Anthropophagie als Übersetzen des Anderen zu verwerfen, weil sie aporetisch ist.
Haroldo de Campos weiß, selbst da, wo er die Gewalt dem Anderen gegenüber zu verteidigen scheint, um ihre Irreduzibilität. Er weiß, dass Übersetzen zwangsläufig eine Usurpation des fremden Textes ist, dass das Moment der Gewalt nicht loslösbar ist von der Sprache, weil jedes Sprechen vom konkreten Gegenstand abstrahieren, das Einzelne, Besondere, dem Allgemeinen opfern muss. Haroldo de Campos negiert neben dem Moment des Spielerisch-Karnevalesken keineswegs die andere Seite des Übersetzens: den Kampf, den Verlust, die Beklemmung, das Schweigen. Seine eigenen Übersetzungen legen Zeugnis davon ab: Sie sind, wie Márcio Seligmann-Silva schreibt, bestimmt durch eine «doppelte Gewalt, einen doppelten Verlust: Gewalt in Bezug auf den Ausgangstext bzw. die Ausgangssprache, wie auch in Bezug auf die eigene Sprache».11
Letzten Endes muss Anthropophagie als Erfahrung einer radikalen, wechselseitigen Transformation gedacht werden. Anthropophagie nährt sich nicht allein vom Text des Anderen, sondern ebenso von der eigenen kulturellen und literarischen Tradition, die sich mit dem Fremden verbindet, bis zur Unkenntlichkeit. Anthropophages Übersetzen ist nicht nur bestimmt durch Gewalt dem Anderen gegenüber, sondern auch durch Gewalt sich selbst gegenüber. In einer paradoxalen Bewegung bejaht und verneint Kannibalismus den Anderen und bejaht und verneint zugleich sich selbst. So ist auch Luzifer nicht einfach Satan: Er ist der Träger des Lichts, der schöne Morgenstern, der vom Himmel gefallen ist, wie es in der Bibel heißt.
Übersetzen als Erfahrung der Einverleibung ist, wie Augusto de Campos hervorhebt, zugleich ein Akt der Liebe: «Meine Art, sie zu lieben, ist es, sie zu übersetzen. Oder zu verschlingen, gemäß Oswald de Andrades anthropophagem Gesetz.»12
Schließlich tötet man nur den Feind, den man bewundert; man frisst nur, was man liebt. Es gilt also, die kannibalische Metaphorik jenseits faschistoider Identitätspolitik, jenseits eines zu verteidigenden ‹Eigenen› und einer gewaltvoll-triumphalen Aneignung des Anderen zu denken. Vielmehr muss Anthropophagie in ihrer grundlegend aporetischen Konfiguration bejaht werden, in ihrer Gleichzeitigkeit vom Tod des Objekts und dessen Wiederauferstehung in einer neuen Form, in ihrer Gleichzeitigkeit von Liebe und Hass, von Bejahung und Verneinung des Anderen ebenso wie des Eigenen.
Das Übersetzen als anthropophagen Ritus zu dechiffrieren bedeutet also, es nicht länger als unidirektionales Unterfangen à sens unique zu lesen, sondern als ein wechselseitiges Sich-Verschlingen, in dem nicht mehr deutlich zu unterscheiden ist zwischen dem, der frisst, und dem, der gefressen wird. Den Anderen sprechen, den Anderen fressen ist die Erfahrung dessen, dass man den Anderen nicht verschlingen kann, ohne selbst von ihm verschlungen zu werden.
Stets also ist das Verschlingen des Anderen ein Selbst-Verschlingen, immer ist Alterität verbunden mit einer Auflösung des eigenen Selbst. Der kannibalische Ritus verwandelt nicht nur den Anderen: Er verwandelt auch den Kannibalen. Haroldo de Campos wird schreiben: «Vor allem anderen ist Alterität eine notwendige Übung in Selbstkritik.»13
Anthropophagie ist ein Übersetzen dieser Alterität, ein Sich-Hin-Werden zum Anderen. Übersetzen heißt, dass sich das Selbst im und durch den Anderen verzehrt. Die Antwort auf die Frage ‹Sein oder Nicht-Sein›, ‹Tupi or not Tupi›, lautet: zum Anderen werden, sich im Anderen als Anderer sehen, tupisieren.