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Anthropophagie und Gastfreundschaft

zu Oswald de Andrade und Haroldo de Campos

Seinen berühmtesten Text, das erstmals 1928 in der ersten Nummer der Revista de Antropofagia veröffentlichte »Anthropophage Manifest« (Manifesto antropófago), signierte Oswald de Andrade mit seinem Namen und einer eigenartigen Situierung: »In Piratininga / Im Jahre 374 nach der Verschlingung / des Bischofs Sardinha«.1 Dom Pedro Fernandes Sardinha (sein Nachname bedeutet auf deutsch: Sardine) war zwischen 1552 und 1556 der erste Bischof Brasiliens. Auf einer Reise nach Lissabon erlitt er vor der brasilianischen Küste Schiffbruch, wurde von den an der Küste ansäßigen Tupi gefangengenommen und schließlich verspeist. Piratininga bezeichnet in der Sprache der Tupi einen »trocknenden« oder »getrockneten« Fisch und dient bis heute als Name verschiedener Orte entlang der brasilianischen Küste. Doch was hat es mit der Referenz auf diese ikonische Szene auf sich?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Oswalds Huldigung dieser »Verschlingung« wäre Ausdruck einer bloßen Abwehr europäischer, kolonialer Einflüsse – ein Aufruf zur Verteidigung und zur Reinhaltung einer indigenen, und also genuin brasilianischen Identität. Die Geschichte des Landes ist reich an derartigen Versuchen, eine Identität zu konstruieren. Doch Oswald de Andrade und die Tupi, auf die er anspielt, hatten anderes im Sinne. So merkwürdig es zunächst klingen mag, erkennt er in dieser Verschlingung eher so etwas wie eine Gastfreundschaft. Anthropophagie, die Praxis des rituellen Kannibalismus, die bei den Tupi-Völkern der Küstenregion verbreitet war, ist für Oswald de Andrade Ausdruck einer umfassenden Öffnung gegenüber dem Anderen. Der große französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der Oswald de Andrade in São Paulo noch persönlich kennenlernte, ging noch weiter und erklärte die indigenen Gesellschaften des gesamten amerikanischen Doppelkontinents zu einer anthropohagen, also Menschen verschlingenden, die europäischen hingegen zu einer anthropemischen, also Menschen auskotzenden Kultur.2 Während die europäischen Kulturen zu einer Abwehr von Alterität neigen, die sich in Institutionen wie Gefängnissen oder Psychiatrien ausdrückt, diagnostiziert er bei den indigenen Gesellschaften Amerikas eine grundsätzliche Offenheit und Öffnung gegenüber dem Anderen. Das Verschlingen ist also gerade keine Abwehr, sondern eine Aufnahme des Anderen, die Bereitschaft, das Eigene durch die Einverleibung des Fremden zu verändern.

Der Einfluss, den das kleine Manifest von Oswald de Andrade auf die brasilianische Kultur des 20. Jahrhunderts genommen hat, lässt sich kaum überschätzen: Nicht nur in der Anthropologie, auch in der Musik, in der Theorie, in der Literatur und in den bildenden und performativen Künsten wurde und wird es bis heute auf zahllose Weisen aufgenommen und weiterentwickelt. Der berühmte Dichter, Theoretiker und Übersetzer Haroldo de Campos hat in dem Konzept der Anthropophagie auch ein Paradigma für seine eigene Theorie und Praxis der Übersetzung gefunden. Übersetzung ist für ihn eine Praxis radikaler Gastfreundschaft, ein Empfangen des Fremden in die eigene Sprache und Kultur. Es bedeutet aber zugleich eine aktive Veränderung, sogar eine Neuschöpfung des Eigenen: Haroldo de Campos spricht daher von einer transcriação, ein Neologismus, der die translatio mit der Schöpfung (criação) verwebt.

Titelseite der ersten Nummer der Zeitschrift für Anthropophagie. Unten findet sich ein Zitat aus dem berühmten Reisebericht von Hans Staden, das im deutschen Original lautet: "da kompt vnser essekost her hueppende"

Das Manifest wurde erstmals in der ersten Nummer der Zeitschrift für Anthropophagie veröffentlicht. In der Mitte findet sich eine Skizze des berühmten Bildes "Abaporu" von Tasila do Amaral.

Diese Idee von Gastfreundschaft, für die das Empfangen des Fremden wesentlich Transformation, unter Umständen sogar revolutionäre Neuschöpfung des Eigenen bedeutet, sprengt den Rahmen der bürgerlichen Rechtsphilosophie. In seinem Aufsatz Vom ewigen Frieden hat Kant einen Begriff von Gastfreundschaft (er verwendet das Wort ›Hospitalität‹) entwickelt, der auf direkte und indirekte Weise den Wortlaut zahlreiche Gesetzes- und Verfassungstexte, zahlreiche Statuten und Resolutionen verschiedener internationaler Institutionen beeinflusst hat:

»Es ist hier […] nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.«3

Kant legt besonderen Wert darauf, die Gastfreundschaft als Frage des Rechts und nicht des guten Willens oder der Wohltätigkeit zu verhandeln. Das Recht des Fremden auf Gastfreundschaft hat für Kant sogar einen besonderen Status: Es ist nämlich das einzige Recht, das jedem Menschen zukommt, unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft, nur durch seine Eigenschaft als »Weltbürger«. Nach diesem bürgerlichen Rechtsverständnis ist Gastfreundschaft also ein Menschenrecht. Doch dieses im Idealfall immer und überall einforderbare Recht kennt enge Grenzen: Der Fremde wird zwar nicht feindselig behandelt, er soll es sich aber auch nicht heimisch machen. Er soll so kurz wie möglich bleiben, nicht stören, nichts verlangen. Vor allem soll er die eigene Gesellschaft, die eigene Kultur nicht verändern. Er soll sie so verlassen, wie er sie vorgefunden hat. Er soll sie auch selbst so verlassen, wie er sie betreten hat: ohne die Rechte und Pflichten eines Staatsbürgers, als anonymer Fremder, als bloßer Weltbürger.

Die Gastfreundschaft, die Haroldo de Campos und Oswald de Andrade vorschwebt, will nicht hinter diese Errungenschaft der bürgerlichen Rechtsphilosophie zurückfallen. Die Verspeisung des Bischofs Sardinha ist kein Symbol für die Rückkehr zu einem vermeintlichen Naturzustand, zu einem ›Krieg aller gegen alle‹, in dem der Fremde nur feindselig behandelt wird. Sie soll vielmehr für eine Radikalisierung der Gastfreundschaft stehen. Doch wie ist diese Radikalisierung zu verstehen? Eine zunächst etwas rätselhafte Stelle aus dem Anthropophagen Manifest kann wichtige Hinweise geben:

»Ich fragte einen Mann, was das Recht sei. Er antwortete, es sei die Garantie der Ausübung der Möglichkeit. Dieser Mann wurde Galli Mathias genannt. Ich habe ihn aufgegessen.«4

Es handelt sich um ein typisches Beispiel für Oswalds ›Telegraphenstil‹: Einzelne Autoren oder auch ganze literarische oder philosophische Traditionen werden auf extrem verkürzte, kubistisch-parodistische Formeln gebracht, die dann in eine Reihe mit Elementen aus der brasilianischen Populärkultur gestellt, mit Versatzstücken aus indigenen und afrikanischen oder afro-brasilianischen Kulturen vermengt werden. In diesem Fall handelt es sich um eine leichtfüßige Parodie der modernen, europäischen politischen Philosophie. Es handelt sich nicht nur um eine politische Parodie, sondern um eine Parodie des Politischen selbst – des Politischen, wie es von der modernen westlichen Philosophie verstanden wird.

Die Antwort auf die für diese Tradition so zentrale Frage, was das Recht sei, klingt vertraut und befremdlich zugleich: Das Recht – das ist »die Garantie der Ausübung der Möglichkeit«. Man fühlt sich an Formulierungen wie die »Bedingung der Möglichkeit« erinnert, an transzendentalphilosophische Philosopheme, oder auch an Rousseau, dem eine Formulierung wie »Garantie der Ausübung der Freiheit« naheliegen würde. Aber die »Garantie der Ausübung der Möglichkeit«? Die Formulierung klingt fast richtig, aber eben nur fast. Sie ergibt letztlich keinen rechten Sinn. Deswegen wurde der Mann »Galli Mathias« genannt, ein alter Ausdruck für »unsinniges Gerede«, dessen Ursprung nicht mit letzter Gewissheit geklärt werden kann. Doch hinter diesem Ausdruck verbirgt sich womöglich noch mehr. Die Spur führt in Rousseau's Gesellschaftsvertrag, genauer gesagt in das sechste Kapitel, in dem Rousseau tatsächlich eine Definition davon gibt, was das Recht ist. Zu diesem Zweck begibt sich Rousseau an den hypothetischen Ursprung aller Gesetze und allen Rechts. Er nimmt den Faden dort wieder auf, wo er ihn in seinem anderen berühmten Text – der Diskurs über die Ungleichheit – hat liegen gelassen. Die Menschheit hat bereits den ersten Naturzustand, einen Zustand uneingeschränkter Freiheit und Ungebundenheit, verlassen und befindet sich in einem ebenso gesetzlosen wie gefährlichen Zustand des ewigen Krieges. In diesem Zustand herrscht das vermeintliche »Recht des Stärkeren«, das er im dritten Kapitel des Contrat social mit folgenden Worten thematisiert:

»Vom Recht des Stärkeren


Der Stärkere ist nie stark genug, immer Herr zu sein, wenn nicht seine Stärke in Recht und den Gehorsam in Pflicht überführt.  […]


Unterstellen wir einen Augenblick dieses vorgebliche Recht. Ich behaupte, dass sich daraus nur ein unerklärlicher Galimathias ergibt. Denn sobald Stärke Recht schafft, ändert sich mit der Ursache auch die Wirkung; jede Stärke, die die erste übersteigt, folgt ihr im Rechte nach.«5

Das berühmte Gemälde "Abaporu" hat Tarsila do Amaral 1928 ihrem Mann Oswald de Andrade zum Geburtstag geschenkt.

Der entscheidende Punkt ist, dass bloße Stärke, bloße Gewalt kein Recht produzieren kann. Recht setzt für Rousseau immer eine Übereinkunft voraus. Der Ausdruck »Recht des Stärkeren« ist daher nur ein »unerklärlicher Galimathias«. Der einzige Ausweg aus dieser prekären und unsinnigen Lage ist der Gesellschaftsvertrag, den er im sechsten Kapitel zum Urspung allen Rechts erklärt. Doch wie Louis Althusser und andere marxistische Theoretiker·innen bemerkt haben,6 bedient sich auch Rousseau eines Sprachspiels: Denn die Möglichkeit, in einen bindenden Vertrag einzutreten, setzt immer schon den Gesellschaftsvertrag voraus, den es ja eigentlich erst begründen soll. Rousseau war sich dessen freilich bewusst, und im Diskurs über die Ungleichheit erzählt er auch eine ganz andere Geschichte über den Ursprung des Rechts: Tatsächlich erfinden die Reichen und Mächtigen das Recht, um ihre Herrschaft zu sichern. Realistisch betrachtet ist der Gesellschaftsvertrag eher ein Ziel, ein Projekt, dem Rousseau aber genau dadurch zum Durchbruch verhelfen will, dass er diesen eigenartigen Vertrag als den Ursprung allen Rechts präsentiert. Und diese Präsentation erfordert ein Spiel mit Worten: Er behauptet, die Menschen schließen einen Vertrag mit sich selbst. Doch wie es scheint, hat sich Oswald nicht täuschen lassen. Allem Anschein nach hat er gesehen, dass das Subjekt vor dem Gesellschaftsvertrag, die imaginierten oder realen gesetzlosen ›Wilden‹, die nach dem Recht des Stärkeren leben, keineswegs dasselbe Subjekt sind wie die durch den Vertrag geeinten ›Zivlisierten‹. Er hat gesehen, dass in Rousseaus Gesellschaftsvertrag eine grundlegende Konfusion darüber besteht, was eigentlich was garantiert oder ermöglicht. Und genau das hat er ja auch gesagt:

»Ich fragte einen Mann, was das Recht sei. Er antwortete, es sei die Garantie der Ausübung der Möglichkeit. Dieser Mann wurde Galli Mathias genannt. Ich habe ihn aufgegessen.«

Aber muss man den bürgerlichen Philosophen wirklich gleich aufessen, nur weil er ebenfalls einen ›unerklärlichen Gallimathias‹ produziert? Ist das nicht ein wenig zu feindselig? Tatsächlich ist der Akt des symbolischen ›Aufessens‹, diese parodistische Reduktion der Philosophie von Rousseau und Kant auf ein bloßes Spiel mit Worten wohl eher als Akt einer umfassenderen und radikalisierten Gastfreundschaft gemeint. Es ist ein Akt der Aneignung, der sie in etwas verwandelt, was sie nicht sind, sie etwas sagen lässt, was sie nicht sagen wollen. Doch dieser Akt erlaubt den europäischen Fremdlingen womöglich erst, wirklich heimisch zu werden, die Gesellschaft, die sie aufnimmt, auf neue, unerhörte Weisen zu verändern. Es ist eher als Ausdruck einer erweiterten, die bürgerliche Vorstellung überschreitenden Gastfreundschaft gemeint. Oswald de Andrade, Haroldo de Campos und den zahlreichen anderen ›Anthropophagen‹ geht es gerade nicht um eine Verschließung, um ein Beharren auf einer imaginierten kulturellen Identität, die dem Anderen und Fremden nur kurzfristig Zuschlupf gewährt. Es geht ihnen um eine Identität der Nicht-Identität, um einen unabschließbaren Prozess der Aufnahme des Fremden, um eine Verfremdung und Enteignung des Eigenen. Das ›Verschlingen‹ ist also gerade kein Rückfall in einen vermeintlichen Naturzustand, in dem das Recht des Stärkeren herrscht. Es soll zum Ausdruck und Symbol einer Radikalisierung der europäischen Revolutionen dienen:

»Rousseau. Von der französischen Revolution zur Romantik, zur bolschewistischen Revolution, zur surrealistischen Revolution und zum technisierten Wilden Keyserlings. Schreiten wir voran.«7

 

31.05.2023
Fußnoten
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©privat

Oliver Precht arbeitet als Philosoph und Literaturwissenschaftler am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, wo er ein Forschungsprojekt zum Thema »Marx in Frankreich: Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945­–95)« verfolgt. Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der Buchreihe Neue Subjektile im Verlag Turia + Kant, für die er unter anderem eine Reihe von klassischen Texten zur Anthropophagie übersetzt und ediert hat (Oswald de Andrade, Haroldo de Campos, Suely Rolnik, Eduardo Viveiros de Castro). Zu seinen eigenen Buchpublikationen zählen Heidegger. Zur Selbst- und Fremdbestimmung seiner Philosophie (Meiner 2020) oder Der rote Faden. Maurice Merleau-Ponty und die Politik der Wahrnehmung (August 2023).

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