TALKS RundUmschau „Das Wort aufgehen lassen“?

„Das Wort aufgehen lassen“?

(Ökologische) Überlegungen zu zukünftigen Übersetzungsbedingungen

Eigentlich wollte ich in Korrespondenz mit dieser RundUmschau über meine Erfahrungen als Übersetzerin zweier indigener Autor·innen schreiben, Daniela Catrileo (Chile)1 und Vito Apüshana (Kolumbien). Ich hätte in dem Zusammenhang wiederum genauer auf Carla Imbrogno geantwortet, die ich 2009 in Buenos Aires kennenlernte und deren Beitrag zum ‚gemeinsamen Anpacken indigener Sprachen‘ (ich paraphrasiere sehr frei) einem im Rahmen von Junivers 2023 von mir geäußerten Desiderat sehr entgegenkommt. Dieses Desiderat hat mit mehreren Jahren beruflicher Tätigkeit in der kolumbianischen Karibik zu tun (ich bin dort Profin an einer Universität, im Bereich Philosophie und Kreatives Schreiben) sowie mit einem „Skandal“ der Übersetzung, der erst im internationalen Jahr der indigenen Sprachen (2019) etwas mehr in den Vordergrund gerückt ist: dass selten (und in der Regel medialisiert, trianguliert) aus indigenen in hegemoniale Literatursprachen übersetzt wird. Zum Beispiel: Vito Apüshana übersetzt sich selbst aus dem Wayuunaiki (das in der Guajira über die Nationalgrenzen zwischen Kolumbien und Venezuela hinweg gesprochen wird) ins Spanische, ich übersetze ihn aus dem Spanischen ins Deutsche. Darüber habe ich einen akademischen Artikel geschrieben2, und ich bin froh darüber, dass Carla Imbrogno uns in der RundUmschau noch einmal näherbringt, was Oraliteratur und wer eine Oralitorin ist: zum Beispiel Liliana Ancalao aus Chubut, Argentinien. Die Mapuche-Dichterin wird im Jahr 2020 bei der Rezitation eines kommemorativen (an ein Arbeitermassaker des Jahres 1921 erinnernden) Gedichts per Zoom attackiert. Die Lesung muss abgebrochen werden; die literarische Präsenz einer minorisierten Kultur ist mit medialer Gewalt beantwortet worden.

In ganz Lateinamerika – und auf der gesamten Welt – sind indigene Bewegungen und Gemeinschaften darum bemüht, interkulturelle Verabredungen zu treffen, ins Gespräch zu kommen, ihre Konzepte vorzustellen. „Sentipensar“ ist ein spanisches Neu-Wort, das die Übersetzungsmaschinen verstummen lässt: ‚Fühldenken‘. Allerdings ist mit dem Begriff bereits ein in Amsterdam ansässiges Kollektiv namens Weaving Realities überschrieben, das sich, angeregt durch indigene Wissens- und Lebensformen, „praktische Dekolonisierung“, d.h. eine andere, ‚de-konsumierte‘ Art des Austauschs (etwa: Kochen) vorgenommen hat.

Ein Attentat auf die performative Integrität einer Dichterin wie Ancalao kann als „violent Phenomenon3“ bezeichnet werden, bei dem Zoom zum von Gewalt kolonisierten Kanal verkommt. Der Videokonferenz-‚Raum‘ ist Bestandteil eines Gebildes aus (mikro- und makro-)medialen und -mobilen Ebenen, auf denen u.a. Literaturplattformen aktiv sind. Der Übergriff macht ihn zum Auffangbecken aggressiver Aktionen gegen dekoloniale Dichtung, deren Autorin und deren bereits gewaltsam verdrängte Kultur; die Übertragung des poetischen Werkes ist durch die Unterbrechung zur politischen Situation geworden. All dies geschieht wiederum in einer Zeit, in der sich Übersetzungskultur – die es für die Diffusion von z.B. Mapuche-Dichtung ganz besonders braucht – zunehmend plurifziert, Sexismen und Rassismen evident oder subvertiert werden und viele unterschiedliche Übersetzungspraktiken und -poetiken entstehen (eingenommen Übersetzungsverweigerungen). Dass es zu dem Vorfall im Jahr 2020 kam (es ließen sich viele weitere, auch sexistische Hackings nennen), scheint eine Reaktion auf eine größere Transformation, die u.a. einschließt, dass indigene Kulturen des 21. Jahrhunderts Raum in Film und Literatur zu beanspruchen beginnen.

Es fällt auf, dass indigene Autorinnen – ich spreche bewusst von Frauen – exotisiert und mit dem Konstruktionsphänomen Natur assoziiert werden. Sie werden dabei mitunter selbst essentialisiert oder gar ‚phänomenalisiert‘. Die Debatte um die Ökofeminismen – die glücklicherweise auch im Plural geschrieben werden – möchte ich hier nicht aufmachen. Nur kurz: der Techno-Ökofeminismus taucht nicht vorrangig in indigenen Wissensprogrammen oder -poetiken auf, genauso wenig wie die dark ecology. Dann aber ist da jemand wie Donna Haraway, die von ihrem Cyborg-Denken her mit indigenen Ontologien parliert: vor ein paar Jahren hat sich die US-amerikanische Philosophin und Biologin in die kolumbianischen mochilas verliebt4, in Web-Beutel unterschiedlicher indigener Kulturen Kolumbiens.5 Diese (kosmologisch signifikanten) mochilas werden von Haraway in Transportmittel für ein „unruhiges“ Überleben im 21. Jahrhundert übersetzt. Daniela Catrileos Dichtung wiederum lässt sich als queer-ökologisch lesen und ist überaus scharf in der Evokation (neo-)kolonialer Gewalt.

Viele „unruhige“, feministische bzw. queere Ökokritiker·innen denken in Poetiken der Relation(en). Der Techno-Ökofeminismus verbindet (lokale und planetarische, im mehrfachen Sinn hybride) Vorstellungen und Beziehungen von Leben (oder Lebensformen), Materialität, Energie, Transformation, Sensationen, Sensitivitäten – und Spiritualität. Und genau darum geht es mir auch für die Übersetzungskultur. Entsteht nicht gerade eine neue Ökologie der Übersetzung bzw. der Übersetzenden, der Versuch einer neuen Ko-Existenz von übersetzenden (und zu übersetzenden) Communities? Ließe sich gar von einer Übersetzungs-‚Ontologie‘ sprechen, jedenfalls dann, wenn wir uns vorstellen, dass Übersetzung Wissen austauscht und programmiert, gültig werden und wirken lässt? Und würde diese Ontologie nicht auch verstärkt Sensibilitäten im Bereich der KI bzw. für die Koexistenz KI-Menschliche Intelligenz verlangen?  

Wenn wir inmitten der zum unübersichtlichen Hypertext gewordenen Ökokritik im engeren Sinn ökologisch denken, können wir uns damit begnügen, dass Übersetzen ökologische Faktoren mitdenken muss. Allein der Öko-Hype (bzw. das Greenwashing) der Wirtschaft braucht spezifische Übersetzungsleitungen (ob von der KI oder vom Menschenhirn geliefert)! Doch zurück zur Dichtung: Es kommt vor, dass pragmatische ökologische oder ökotechnologische Begriffe in einen poetischen Text migrieren und Sprach-Kontamination anfällt, die für die Übersetzung eines solchen Textes herausfordernd sein kann. Zum Beispiel „Greenwashing“: Auf Spanisch gibt es kein Äquivalent. Auf Deutsch? Und auf Wayuunaiki?  

Damit wären wir wieder beim obengenannten Übersetzungsdesiderat.

Die zum lateinamerikanischen Poesiefestival Latinale 2023 eingeladene Dichterin und Übersetzerin Dina Ananco (Awajún und Wampi-Kultur, Amazonien) wurde zum Zweck der Erstellung eines Kurz-CVs wie alle anderen Dichter·innen gefragt, wer sie als Pflanze wäre.   Die Antwort kam prompt: „Huayruro“. Das ist: Ormosia coccinea. „Chocho“ in Kolumbien, „Cairurú“ in Venezuela. Um nur einige Bezeichnungen für den Schmetterlingsblütler zu nennen. Alle Latinale-Dichter·innen wussten stante pede, wer sie als Pflanze wären. Außerdem beantworten sie die Frage, in welcher Klimazone sie geboren wurden, und ob sie migriert sind. In genau dem Zusammenhang möchte ich nun zu weiterreichenden Überlegungen anregen, die mit der Beziehung Ökologie-Übersetzung zu tun haben. Welches zukünftige Klima imaginieren die Dichter·innen? Und wer von ihnen – wer von uns – wird unter welchen klimatischen Bedingungen übersetzt werden, oder übersetzen? Könnten (oder müssen) wir hier den Begriff „sentitraducir“ erfinden (‚Fühlübersetzen‘), und ihm eine prognostische, vorhersagerische Wendung geben? Vorherfühlübersetzen? Das wäre vielleicht ein (neu) „aufgegangener“, ein (eben) „aufgewachter“, passender Begriff! Ich reagiere dabei auf die Formulierung „amanecer la palabra“, die in Bogotá im April 2023 in einer Ausstellung auftauchte, in der es um indigene Kulturen ging. Vielleicht ließe sich diese Formulierung übersetzen mit: „das Wort aufgehen lassen“ –  so, wie der Tag erwacht oder die Sonne aufgeht.

©Joanne Rochette

13.07.2023
Fußnoten
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© Privat

Rike Bolte ist Begründerin und Kuratorin des Poesiefestivals Latinale sowie Übersetzerin von Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Französischen und Katalanischen. 2020 wurde sie für die Übersetzung von James Noëls Roman Belle Merveille mit dem Internationalen Literaturpreis des HKW Berlin ausgezeichnet. Aus der Karibik hat sie weiterhin Jacques Stéphen Alexis übersetzt. Sie ist als Professorin für Literatur und Kreatives Schreiben an der Universidad del Norte in der kolumbianischen Karibik tätig.

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