TALKS RundUmschau Der indische Sprachraum und Übersetzungen
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Der indische Sprachraum und Übersetzungen

Indien ist ein Subkontinent. Suchen wir nach Zahlen, so finden wir 1652 Sprach-Namen, und derzeit erkennt der achte Anhang der indischen Verfassung – zusammen mit dem Sanskrit als sogenannter Gelehrtensprache – 22 Sprachen als wichtige Sprachen, bzw. als offizielle Sprachen der indischen Union an.

Vielsprachigkeit ist ein Zeichen der Diversität Indiens, das heißt gleichzeitig auch seines kulturellen Reichtums. Prakrit, Pali, Ardhamagadhi, Farsi (Persisch) und Arabisch, und dazu noch die Sprachen der heiligen Schriften, nämlich Hebräisch und Latein, sowie die Fremdsprachen Portugiesisch, Französisch, Deutsch werden hierzulande seit Jahrhunderten gelernt. Neben dieser bunten Mischung sind Dialekte, mündliche Überlieferungen, Volkstraditionen ein wichtiger Bestandteil der indischen literarischen Welt. Als die Engländer nach Indien kamen, brachten sie modernes Denken und aufklärerische Perspektiven mit, die hier Wurzeln schlugen. Und dies brachte in die Literatur in allen regionalen Sprachen Indiens eine Wende zur Moderne. Mit der Unabhängigkeit Indiens wachte ein neues Selbstgefühl auf, und literarische Kreativität fand einen eigenen, autonomen Ausdruck.

In der Literaturwissenschaft dieses sprachenreichen Landes ist Übersetzung als einheitliches, fertiges Konzept nie postuliert worden. Übersetzung, zwischensprachliche, sinndeutende Beweglichkeit, zwischensprachliches Gespräch, Transkreation, Transpräsentation, Transformation, Nacherzählen, ja sogar Korrumpierung – so viele diverse Namen und Bezeichnungen weisen auf diesen einen Prozess hin. Und ganz verschiedenartige philosophische Ansätze beleben das jeweilige Bedeutungsfeld dieser Begriffe.

Zwar fördert und ermutigt der Staat im unabhängigen Indien literarische Übersetzung zwischen indischen Sprachen durch staatliche Preise und Auszeichnungen, Akademien und andere Maßnahmen, aber es herrscht dennoch ein Mangel an Übersetzenden, die die für Übersetzungen zwischen zwei indischen Sprachen notwendige Sensibilität, linguistische Kompetenz sowie den Lerneifer haben, die binnenindische kulturelle Dynamik in ihrer Tiefe zu verstehen. Im Grunde genommen ist auf dem Gebiet der literarischen Übersetzung noch immer das Englische am wichtigsten. Nur über diese Brücke verwirklicht sich das Zwiegespräch zwischen zwei indischen Sprachen. In der Tat spielt die englische Sprache bei Übersetzungen zwischen zwei indischen Sprachen eine Vermittlerrolle. Auch auf dem literarischen Markt genießen englische Übersetzungen den Vorrang, bzw. größere Nachfrage. Anerkennung der indischen Literatur auf der globalen Ebene ist einzig über den Weg der englischen Übersetzung möglich.

Seit der Booker-Preis Auszeichnung der gelungenen Übersetzung von Geetanjali Shrees auf Hindi verfassten Romans pulsiert die Übersetzungsszene in Indien mit neuer Energie. Und die Quelle dieser neuen Energie findet man in dem spektakulärsten Wörterfest Indiens, nämlich dem Jaipur Literature Festival.

2018 debütierte auf dieser Bühne der JCB Preis – die höchste Auszeichnung auf der indischen literarischen Szene – dem Booker gleich, dotiert mit 2.500.000 INR (etwa 28.000 Euro). Bei der Auswahl für diese Auszeichnung wurden zum ersten Mal englischsprachige Übersetzungen von literarischen Werken, die ursprünglich auf indischen Sprachen erschienen, mit englischsprachigen Originalwerken gleichgesetzt. Dies war sicherlich ein zu begrüßender, hoffnungserregender Anfang, der die Welt der literarischen Übersetzung wiederbelebte.

In der engeren Auswahlliste im Jahr 2018 gab es zwei Übersetzungen unter den fünf Titeln. Benyamins Malayalam Roman gewann damals den Preis. Nicht nur, dass man seitdem jedes Jahr englische Übersetzungen auf der Auswahlliste für den JCB Preis sieht, sondern 2020 und 2021 haben englische Übersetzungen von Büchern aus indischen Sprachen diesen Preis sogar gewonnen. 2022 standen ausschließlich englische Übersetzungen von Romanen aus dem Urdu, Hindi, Nepali, Malayalam und Bangla auf der Auswahlliste! Werfen wir einen kurzen Blick auf diese Bücher, um uns einen Einblick in die aktuellen literarischen Themen in Indien zu verschaffen.

Unter diesen fünf Büchern befindet sich der preisgekrönte Roman The Paradise of Food (Urdu, Khalid Javed, übersetzt von Baran Farooqi), der durch eine Küchenmetapher 50 Jahre aus dem Leben von dem Protagonisten Guddu Miyan darstellt: ein Bildungsroman, der den Lauf des großfamiliären Lebens innerhalb des islamischen Kulturkreises in Indien und zeitgenössisches sozio-politisches Geschehen im Lande eng zusammenwebt.

In dem Roman Song of the Soil (Nepali, Chuden Kabimo, übersetzt von Ajit Baral) liest man eine Geschichte auf dem Hintergrund der Gorkhaland-Bewegung der 80er Jahre, die ein eigenes Bundesland für die Gorkhas in Indien zum Ziel hatte. Die Schilderung des Kampfes, und der Streitereien entlarvt mehrere grausame, abscheuliche Gesichter der Gewalt. In gewissem Sinne ist dies ebenfalls ein Bildungsroman.

Imaan (Bangla, Manoranjan Byapari, übersetzt von Arunava Sinha) ist die Geschichte vom neugeborenen kleinen Imaan, der als Säugling am Busen seiner Mutter in die Strafanstalt kommt, dann in die Besserungsanstalt, und dann als Lumpensammler am Jadavpur Bahnhof sein Brot verdient. Das unsichere, erstickende Leben draußen lässt ihn die sichere Welt der Strafanstalt wieder aufsuchen. Ein Roman, der neue Schichten der sozialen Realität des einfachen Menschen, seines eintönigen, bedeutungslosen Alltags entfaltet: eine völlig neue Vergegenwärtigung des Humanismus in der Bangla Literatur.

Valli (Malayalam, Sheela Tomy, übersetzt von Jayashree Kalathil) ist die weitreichende Geschichte einiger Generationen von Ureinwohnern aus dem uralten, naturgesegneten Folkloren-Paradies Wayanad (im heutigen Bundesland Kerala) – sie erzählt von ihrer Ausbeutung und Folter, aber auch von ihrem zähen Widerstand, ihrer glühenden Rebellion.

Tomb of Sand (Hindi, Geetanjali Shree, übersetzt von Daisy Rockwell): Eine achtzigjährige Frau im Norden Indiens bereitet sich nach dem Tod ihres Mannes mit voller geistiger Klarheit auf einen neuen Lebensabschnitt vor. Der Tradition und den Sitten und Bräuchen zum Trotz befreundet sie sich mit einer Transgenderperson. Sie begibt sich auf den Weg, für sich wieder neu auszuwerten, was es genau bedeutet, eine Frau zu sein – als Mutter, Tochter, Frau, Feministin… erweiterte, umfassendere Bedeutungen aufsuchend von Wörtern wie Land, Grenzen und Landesgrenzen, Geschlechterrollen und -unterscheidungen, Religion usw.

In den Handlungen dieser fünf Bücher finden wir eine repräsentative Widerspiegelung der zeitgenössischen Literatur Indiens. Die Stimme der zahllosen Unterdrückten und Marginalisierten, die ihr Leben lang außerhalb des Mainstreams auf der falschen Seite des indischen Sozialsystems schuften müssen, hat sich über die Jahrzehnte verstärkt, unüberwindbare Mauern des Unrechts werden durchschlagen, und die indische Frau leistet auf mehreren Ebenen Widerstand. Nacheifern, Rebellion und Selbstfindung können als die drei Phasen ihres Schreibens betrachtet werden. Viele Bücher schildern detailliert und aus einer zeitgenössischen, sozial-realistischen Perspektive die kontemporäre wirtschaftliche, soziale, kulturelle Wirklichkeit, die jüngste Geschichte mit all ihren Änderungen und Fortschritten.

Mit dem verbesserten, engeren Kontakt zwischen indischen und internationalen Schriftsteller·innen sind heute auch bei den Lesenden Neugier und Verständnis, Sensibilität und ein gewisser Lese-Ernst gewachsen. Man sollte sich jedoch von dem süßen Gedanken – der ganzen Übersetzungsszene in Indien sei neues Leben eingehaucht worden – nicht einlullen lassen. Beim Vergeben der Preise gelten heute noch auch bei Übersetzungen die Handlung, thematische Aktualität, formal-strukturale Neuerungen, Symbolik, Reichtum an Referenzen und Sprachkunst des Originals als Kriterien bei der Beurteilung. Solange die Kritik und Auswertung der Übersetzung selbst nicht zur Grundlage für die Preisvergabe werden, wird die Übersetzung ihre volle Entfaltung als eigenständiges literarisches Werk nicht erreichen. Die Übersetzung – eine Nachschöpfung – wird in Indien weiterhin lediglich als Medium zur Erleichterung des Kontakts und Dialogs, als ein beigefügtes bzw. verfügbares Hilfswerkzeug betrachtet.

13.07.2023
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Jayashree Hari Joshi, geboren in Pune (Indien), ist Übersetzerin, Dichterin, Theaterkritikerin und Essayistin. Sie übersetzt Theaterstücke, Gedichte, Erzählungen und Romane sowie Kinder- und Jugendliteratur aus dem Englischen und Deutschen ins Hindi und Marathi. Zu ihren Übersetzungen zählen Werke von Roland Schimmelpfennig, Ulrike Draesner, Ali Abdollahi, Zaid, Sasa Stanisic, Erich Fried, Hilde Domin, Mascha Kaleko, Rainer Maria Rilke u.a. Seit 1996 ist sie am Goethe Institut Südasien in der Kulturabteilung tätig. Jayashree Joshi lebt in Mumbai.  

 

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