TALKS TUPI OR NOT TUPI Von den Verlockungen des Kannibalismus und des Vatermordes
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Von den Verlockungen des Kannibalismus und des Vatermordes

Eine Reflexion über die Weitergabe von Schlüsselkonzepten der beiden brasilianischen Avantgarden der Moderne

Im Folgenden stelle ich einen Abschnitt der Entwicklung eines Bilds/Begriffs vor, welches/r seit der griechischen Antike erdacht wurde und sich seit der europäischen Invasion Amerikas im 16. Jahrhundert stark verbreitet hat: der Kannibalismus. Der Abschnitt, um den es hier zeitlich gehen soll, reicht von den Berichten über kannibalische Praktiken der südamerikanischen Indigenen aus dem 16. Jahrhundert über die Formulierung des Konzepts der „Anthropophagie“ als interkulturelle Technik durch Oswald de Andrade (1890-1954) im brasilianischen Modernismo der 1920er Jahre und seine Rehabilitierung durch die literarische Avantgarde der konkreten Poesie São Paulos der 1950er und 1960er Jahre bis hin zu seiner systematischeren internationalen Verbreitung durch die Übersetzungswissenschaft ab den späten 1990er Jahren. Ich habe hier nicht vor, diese Ereignisse und den Prozess der Weitergabe von Schlüsselbegriffen im Einzelnen darzustellen – dies ist bereits in mehreren Publikationen erfolgt –, sondern möchte über die Konzepte von Identität und Alterität nachdenken, die in den entscheidenden Momenten dieser Entwicklung auftauchen (und darin eingeflochten sind), sowie eine Diskussion anstoßen über die Historisierung dieses Bilds/Begriffs als eine postkoloniale Strömung innerhalb des Nachdenkens über literarische Übersetzung.

Wir werden uns hier nicht mit der anthropologischen Bedeutung der rituellen Praxis des Kannibalismus einzelner amerikanischer Ethnien befassen, die in den ersten Jahrhunderten der Kolonialisierung praktisch ausgerottet wurden. Nicht allein, weil die Aufzeichnungen über diese Praktiken von den Kolonialherren und nicht von ihren Ausführenden stammen, sondern vor allem, weil diejenigen, die das Bild/den Begriff der Anthropophagie schufen und weitergaben, kein ethnologisches Interesse am Verständnis dieser ursprünglichen Rituale hatten. Ich will hingegen eben diese Distanz betonen, die die Weitergabe und Verwandlung – durch Découpage und metaphorische und metonymische Eingrenzung – dieses Bilds/Begriffs von jeglicher historischen Realität des Kannibalismus und jeglicher ursprünglichen Funktion dieser Praxis unter anderem bei der Volksgruppe der Tupinambá trennt.

Bemerkenswert an der rasanten Verbreitung von Berichten über kannibalische Kulturen Amerikas im Europa des 16. Jahrhunderts ist, dass diese von Reisenden erbrachten Zeugnisse über eine Praxis, die bereits in frühen Zeiten Teil der europäischen Mythologie war, schließlich zu einer Grenzziehung führten zwischen der Zivilisation (Europäer) und der Barbarei (Wilde, Neuweltbewohner), die an sich schon die Invasion der neu entdeckten Gebiete, die Versklavung ihrer Bewohner und die Aneignung des Kontinents und aller dort vorgefundenen Güter legitimierte. In der Beziehung zur Neuen Welt wurde der vermeintlich unanfechtbare Gegensatz zwischen Zivilisation und Barbarei in den Antagonismus zwischen „uns“ und „ihnen“ überführt, sodass die Identität des einen auf der totalen Andersartigkeit des „Anderen“ beruhte. Die Ausnahmen von diesem Diskurs – wie die Berichte von Jean de Léry (Histoire mémorable du siège de Sancerre, 1574, und Histoire d'un voyage fait en la terre du Brésil“, 1578), die Michel de Montaigne in seinem Essay über die Kannibalen („Des Cannibales“, 1595) übernahm und William Shakespeare zur Figur des Caliban in Der Sturm inspirierten (geschrieben zwischen 1610 und 1611) – bestätigen die Regel: Die Vehemenz, mit der sich Léry und Montaigne unter Verweis auf die seit 1517 in Europa tobenden Religionskriege gegen die einseitige Zuschreibung von Barbarei an die außereuropäischen Völker und gegen die selbst zugeschriebene zivilisatorische Alleinstellung der Europäer wenden, beweist die Dominanz dieses hegemonialen Diskurses, den sie bekämpften.

In der Tat dürfte es schwierig sein, einen größeren Gegensatz zu finden als den zwischen der Haltung der kannibalischen Indigenen und der kolonisierenden Europäer gegenüber dem „Anderen“. Während die Kolonialherren sich selbst als Träger der Zivilisation sahen, die den „Anderen“ ausschloss, strebten die Tupinambá danach, die Eigenschaften des „Anderen“, der im Krieg bekämpft und in Würde besiegt wurde, in sich aufzunehmen und zu verkörpern. Auf der einen Seite also eine Identität, die auf dem Ausschluss des Menschlichen (das heißt des Eigenen) im „Anderen“ beruhte, auf der anderen Seite eine Identität, die durch die Einverleibung und damit die Integration des „Anderen“ gestärkt wurde. Zum einen also der Gebrauch des „Anderen“ mit dem Augenmerk auf sich selbst, zum anderen der Gebrauch des Selbst mit dem Hunger nach dem „Anderen“.

(Hier ist ein Einschub angebracht: Es ist interessant festzustellen, dass diese beiden antagonistischen Haltungen gegenüber dem „Anderen“ selbst wiederum eine Dichotomie darstellen, die sich durch das moderne Denken über Übersetzung zieht. Indem er eine Debatte an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert zusammenfasst, verweist Friedrich Schleiermacher auf zwei möglich Methoden, einerseits den Fokus auf das Eigene zu richten und dem Leser der Übersetzung den fremden Autor nahe zu bringen, oder aber den Fokus auf das Fremde zu richten und den Leser der Übersetzung zum fremden Autor zu führen. Fast zwei Jahrhunderte später wird Schleiermachers Gedanke von Lawrence Venuti in den USA wieder aufgegriffen und zwar durch den Gegensatz zwischen einer „domestizierenden“ und einer „verfremdenden“ Haltung, die der Übersetzer einnehmen und sich dabei entscheiden muss, ob er das Fremde auf sich selbst reduziert oder das Eigene erweitert, um das „Andere“ einzubeziehen. Unter dem Einfluss deutscher Denker an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verteidigt Antoine Berman in seiner Theorie eine Übersetzungspraxis, die der Alterität gerecht wird, und eine Ethik, die die irreduzible Besonderheit des „Anderen“ anerkennt. Dies gelänge durch eine wörtliche Übersetzung, das heißt indem die Körperlichkeit eines jeden Textes im Übersetzungsprozess berücksichtigt wird).

Abb.1. Kolorierter Kupferstich in der Ausgabe von Theodor de Bry: Americae, 3. Buch, Frankfurt am Main 1592, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin. © public domain

Etwas mehr als vier Jahrhunderte nachdem sich die Berichte und Bilder von Kannibalismus, die die Europäer in einigen Teilen der Neuen Welt mit eigenen Augen bezeugten, weit verbreitet hatten, griffen die Initiatoren des brasilianischen Modernismo auf das fruchtbare Bild des Kannibalismus als Metapher für eine souveräne Assimilation der Kultur der Kolonisatoren zurück. Wie die europäische Avantgarde, die das „Primitive“ als Wert des modernen Ausdrucks wiedereinsetzte, befanden sich die brasilianischen Modernisten in einem Dilemma. Vielleicht hatten Francis Picabias Manifeste Cannibale Dada von 1920 mit seiner Beschwörung der Macht des Todes und seinen nihilistischen Losungen sowie die von ihm im selben Jahr gegründete Zeitschrift Cannibale sogar als Inspiration für die Künstler gedient, die 1922 auf der Semana de Arte Moderna (Woche der Modernen Kunst) das Publikum in São Paulo in Aufruhr versetzen sollten. Die brasilianische Bewegung der Antropofagia („Anthropophagie“), die nach den Gemälden von Tarsila do Amaral zwischen 1928 und 1930 und dem 1928 veröffentlichten Manifesto Antropófago („Anthropophagisches Manifest“) von Oswald de Andrade ins Leben gerufen wurde, konnte das „Primitive“ jedoch nicht auf dieselbe Weise betrachten wie die europäischen Künstler. Denn auch wenn sie die Nachkommen der Kolonisatoren waren und ihre künstlerische Ausbildung in Frankreich und in einer frankophilen Kultur wie der brasilianischen ihrer Zeit erhalten hatten, befanden sie sich auf einem Boden, der vorher ausschließlich von sogenannten „primitiven“ Völkern bewohnt wurde. Mit anderen Worten: Die Rettung des Primitiven bedeutete nicht, in der Ferne zu suchen, sondern vielmehr (wenn auch nur symbolisch) in die eigene Herkunft einzutauchen. São Paulos intellektuelle und künstlerische Elite der 1920er Jahre, die sich größtenteils aus Nachkommen der ersten Kolonisatoren oder der europäischen Einwanderer zusammensetzte, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika kamen, begleitete Europa bei der modernen Suche nach dem „Primitiven“, entdeckte jedoch in seiner eigenen Geschichte und nicht in fernen Ländern die Eigenständigkeit indigener Völker, die sich nicht unterjochen ließen, und den vielfältigen und subtilen Widerstand der versklavten Afrikaner. Die Verherrlichung einer hybriden Kultur, die den brasilianischen Modernismo zu einer der wenigen Bewegungen der Moderne macht, die einen nationalistischen und nicht internationalistischen Charakter aufweisen – wohin die Avantgarde-Bewegungen meist tendierten –, bildet die Grundlage, um den „primitiven“ „Anderen“ in sich selbst hervorzuholen. Obwohl sie sich an europäische Darstellungen des indigenen Kannibalismus anlehnt, also keine unmittelbare Beziehung zu den ursprünglichen Kulturen unterhält, simuliert die Anthropophagie den Ritus der Vorfahren, indem sie sich den sogenannten „primitiven“ „Anderen“ aneignet und in diesem „Anderen“ ihre Identität zu erweitern sucht. Diese Operation der unauthentischen Identifikation ist nur durch eine ironische Verschiebung möglich. Denn am Ende kannibalisierte die Anthropophagie das indigene Amerika mehr als das vorgeblich kannibalisierte Europa, denn letzteres war ihr nicht nur viel näher (und eigen), sondern lieferte ihr auch den Diskurs (der Reisenden des 16. Jahrhunderts), das Referenzmaterial (der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts) und die Handlung (Kolonisierung), auf die es als „wildes Böses“ bellizistisch (Avantgarde, militärischer Ausdruck) reagieren würde. (In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Flagge der brasilianischen Expeditionstruppe FEB, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Alliierten am Italienfeldzug teilnahm, ab 1944 eine rauchende Schlange war ...) Die usurpierende (unauthentische) Identifikation mit Amerika (vor Amerigo Vespucci), das heißt mit „a mãe-rica“ (der reichen Mutter), über die man spricht als („Matriarchat von Pindorama“), ist der Gegenpol zum Bruch mit dem (oder zum Verschlingen des) kolonisierenden Vaters, zu dem man spricht („Kein Napoleon. Kein Cäsar.“). Während die indigene Herkunft im Manifest nur Gegenstand der Rede ist, ist der europäische Kolonisator Gesprächspartner, Zielscheibe und Adressat des Anthropophagischen Manifests, das aus der fiktiven Sicht dessen geschrieben ist, der sich nicht von ihm kolonisieren ließ. Diese ironische (weil umgedrehte) Verschiebung ist jedoch keine willkürliche Persiflage; sie stellt eine positive Verwandlung des Ortes dar, der nicht ist (weder das eine noch das andere, weder Kolonisator noch Kolonisierter) zu dem Ort, der zu einem Dazwischen wird. Und das ist die wahre Berufung des Anthropophagen zum Übersetzer.

(Hier ist ein weiterer Einschub angebracht. Bekanntlich würde Vilém Flussers Denken kaum als solches existieren, wenn er nicht 31 Jahre seines Lebens in Brasilien verbracht hätte. Nachdem er seine Familie im Holocaust und seine Heimatstadt Prag durch das Exil verlor und damit auch die Möglichkeit, ein europäischer Intellektueller zu werden, fand er sich im brasilianischen Kulturmilieu wieder, wo seine Entwurzelung durch die Diaspora möglicherweise zusammenfiel mit dem Nicht-Ort des Intellektuellen in einem europäisierten und nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend amerikanisierten Land wie Brasilien, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung Analphabeten waren (1940 ergab die Volkszählung eine Analphabetenrate von 56,8 Prozent). Obwohl ihn das akademische Umfeld seiner Zeit nicht anerkannte – eine Erfahrung, die er mit Oswald de Andrade teilte –, schuf Flusser sein Werk aus einer Position heraus, die der des Übersetzers nicht unähnlich ist, die Position derer, die sich in einem Dazwischen befinden. Wie Rainer Guldin in seinem Buch Philosophieren zwischen den Sprachen – Vilém Flussers Werk (2005) aufzeigt, ist Flussers Denken untrennbar mit dem Ort des Bodenlosen verbunden, der das „Dazwischen“ in seinen eigenen Raum verwandelt. 

„Wenn ich zu übersetzen beginne, ist es, als ob der Boden unter meinen Füßen weich wird. Mein Hiersein wird problematisiert. Das Selbst, das ich bin, das Selbst, das Gedanken hat, droht sich in dem Maße aufzulösen, in dem diese Gedanken formalisiert und versinnbildlicht werden. Es ist eine fortschreitende und geordnete Entfremdung ...“1

„[...] die Möglichkeit der Übersetzung ist eine der wenigen Möglichkeiten, vielleicht die einzig praktikable, des Intellekts, die Horizonte der Sprache zu überwinden. Während dieses Prozesses vernichtet er sich vorübergehend selbst. Er verflüchtigt sich, wenn er das Gebiet der ursprünglichen Sprache verlässt, um sich wieder zu verdichten, wenn er die Sprache der Übersetzung erreicht.“2

Die Idee des Hin und Her Schwingens, des Schwebens und des freiwilligen Sprungs über den Abgrund, die Bereitschaft, sich dem Nichts zu öffnen, schließlich das Bild eines Sprungs, der den Ur/sprung auslöscht, bilden den Kern der Flusser’schen Überlegungen zur Übersetzung.)

Auch wenn sie sich nicht auf die Frage der Übersetzung bezieht, was die spätere Avantgarde tun wird, bildet Oswalds Anthropophagie einen Präzedenzfall für die Reflexion über die Weitergabe literarischer Begriffe, weil sie sich für eine Enthierarchisierung der Beziehungen zwischen dominanten und dominierten Kulturen einsetzt. Dafür bedient sie sich metaphorisch des Bildes der rituellen kannibalischen Praktiken der Indigenen, das in Berichten der Kolonialherren verbreitet wurde, und wendet es gegen die Kolonialherren selbst. Die metaphorische Aneignung des Kannibalismus im Anthropophagischem Manifest erzeugt, auch wenn sie von zugespitzten Formulierungen begleitet wird („Tupi oder nicht Tupi, das ist hier die Frage“), einen körperlosen Diskurs. Worin der anthropophagische Akt – literarisch gesehen – bestehen soll, bleibt offen. Die Texte, die in der Revista de Antropofagia zwischen Mai 1928 und August 1929 erscheinen, geben keine genauen Hinweise auf die körperliche Dimension dieser Aneignung. Sodass der Begriff der Anthropophagie, vor allem nachdem er durch die konkrete literarische Avantgarde in den 1950er und 1960er Jahren als antikoloniale rhetorische Geste wiederentdeckt wurde, als Alibi für die adaptierende oder interpretierende Aneignung anderer künstlerischer Werke und als Legitimation für eine Ästhetik der Melange, der enthierarchisierenden und enthistorisierenden Vermischung ursprünglich unverbundener Elemente und Bezüge, weite Kreise zieht. Die aleatorisch anmutende Ausbreitung des Begriffs offenbart jedoch eine Konstante. Vielleicht ist das, was das anthropophagische Denken von Oswald de Andrade innerhalb der brasilianischen Modernismo am stärksten auszeichnet, nämlich die Vorstellung einer nicht-essenziellen kulturellen Identität, die zu einer Umkehrung und einer Loslösung von jeglicher Herkunft fähig ist, sei sie nun einheimisch oder kolonial. Daher verwundert es nicht, dass die schlagkräftigste Ausdrucksform der Oswald’schen Poesie die Parodie ist. In der Parodie stellt sich das Subjekt der Rede zwischen eine bereits existierende, zitierte, fremde Rede und den einleitenden Sprechakt im Hier und Jetzt, der dem Zitierten eine völlig neue Funktion zuweist. Die hegemonialen Kritiker in den vier Jahrzehnten nach der Woche der modernen Kunst konnten – oder wollten – die Eindringlichkeit der Oswald’schen Ironie und Parodie nicht verstehen und taten seine literarische Produktion als nebensächlich ab. Die Rehabilitierung Oswald de Andrades als Vertreter des literarischen Modernismo Brasiliens sollte erst durch die nachkommende literarische Avantgardebewegung, der konkreten Poesie, in den 1950er und 1960er Jahren erfolgen. In diesem Kontext wurde die Anthropophagie schließlich auch für die Reflexion über die literarische Übersetzung vereinnahmt.

Das Bekenntnis zu einer enthierarchisierten Beziehung zur europäischen Literatur ist vielleicht die unmittelbarste Verbindung zwischen Oswald de Andrade und der konkreten Avantgarde. Wenn die Noigandres-Gruppe – gegründet von Augusto de Campos, Décio Pignatari und Haroldo de Campos im Jahr 1952, dem ersten Erscheinungsjahr der gleichnamigen Zeitschrift – Oswald de Andrade in ihren Kanon origineller und innovativer Autoren aufnimmt, in den auch Stéphane Mallarmé, Ezra Pound, James Joyce, e. e. cummings, um nur die wichtigsten zu nennen, gehören, ist dies kein Bekenntnis zu seinem tatsächlichen Einfluss, ganz im Gegenteil. Das ästhetische Programm der Konkreten Poesie, welches in mehreren Texten und Manifesten von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre umrissen wurde, aktualisiert eine ganze Reihe von Autoren für die Gegenwart, die so als ihre Vorläufer gelten können. Die Initiative zur Schaffung eines neuen Kanons, einschließlich der Wiederentdeckung von Autoren oder bestimmter Werkabschnitte, die die frühere Literaturgeschichtsschreibung vernachlässigt hatte, wird von dem (Pound’schen) Impuls angetrieben, die Vergangenheit durch die Brille der künstlerischen Manifestationen der Gegenwart neu zu lesen, in diesem Fall der Konkreten Poesie, die von der Noigandres-Gruppe miterfunden wurde. Was Oswald de Andrades Wiederentdeckung betrifft, so fällt der (metonymische) Ausschnitt seines Werks direkt mit dem ästhetischen Programm der Konkreten Poesie zusammen. In seinen Essays über den Autor des Anthropophagischen Manifests erkennt Haroldo de Campos in dessen dichterischem Werk mehrere von Ezra Pound postulierte Verfahren der modernen Poesie – wie die Verdichtung der Sprache, die ideogrammatische Komposition und die Parodie – sowie weitere, die direkt mit der Konkreten Poesie zusammenhängen, wie die Visualität, die schnellen Schnitte und die radikale Reduktion auf das Minimum. Aber von allen diskursiven Gesten des Antropophagischen Manifests stimmt die Hervorhebung einer Literatur for export, die nicht nur von der europäischen Literatur abgeleitet war, am meisten mit den Interessen der neuen Avantgarde überein. Auch wenn eine solche im Modernismo der 1920er Jahre tatsächlich nur schwer zu finden war, ist die Konkrete Poesie – die von Brasilianern miterfunden wurde und von denen aus sich die Bewegung des Concretismo international verbreitete – vielleicht das erste Beispiel dafür, wie eine literarische Bewegung in Brasilien gleichzeitig mit der in Europa entsteht und nicht erst im Nachgang. Die von den Konkreten Dichtern geforderte und vorgenommene Enthierarchisierung gründete auf der (Pound’schen) Vision, dass es Wahlverwandtschaften zwischen innovativen Poetiken aller Zeiten und Sprachräume gibt, ohne die Notwendigkeit einer Abschottung oder Segregation zwischen ihnen. Überzeugt davon, dass die Sprache der Poesie eine universelle Sprache ist, unabhängig von der Sprache, in der sie sich letztlich manifestiert, machten die Konkreten Dichter Brasiliens die Übersetzung zu einem grundlegenden Teil ihres ästhetischen Programms. Indem sie eine erfindungsreiche Übersetzung forderten und anstrebten, die sich der Komplexität der poetischen Mittel und Wirkungen des Originals verpflichtet fühlte und die darauf abzielte, in einer anderen Sprache einen Text mit demselben Grad an ästhetischer Raffinesse zu schaffen, setzten die Dichter der Noigandres-Gruppe das Verfassen von Übersetzungen mit dem Verfassen von Poesie gleich und schufen darüber hinaus im Laufe ihres Lebens alle Autoren ihres Kanons und zahllose andere Klassiker, Modernisten und Zeitgenossen neu.

Doch noch bevor sie einen Text über ihren Übersetzungsbegriff niederschrieben, veröffentlichten die Dichter der Noigandres-Gruppe ab 1960 in gemeinsamen Büchern ihre Übersetzungen der Cantos von Ezra Pound, der Lyrik von Mallarmé, von Fragmenten aus James Joyces Finnegans Wake und der modernen russischen Dichter, um sich später individuell Texten aller Epochen zu widmen, von biblischen Schriften bis zur zeitgenössischen Lyrik. Die jungen Avantgarde-Dichter motivierte zunächst der Anspruch auf eine neue Art und Weise, Poesie zu schaffen und zu übersetzen, eine poetisch-übersetzerische Praxis, die der Materialität und Konkretheit der Sprache gerecht wird. Obwohl es in der brasilianischen Literatur bereits herausragende Lyrikübersetzer gab, war das Bewusstsein für die Untrennbarkeit von Form und Inhalt nicht der Leitgedanke der meisten Übersetzungen jener Zeit. Daher bestanden sie darauf, die Neuartigkeit ihrer Art und Weise zu übersetzen hervorzuheben, was sich in den Begriffen widerspiegelt, die sie für ihre Arbeit geprägt haben: tradução-arte (Kunst-Übersetzung), transcriação (Transkreation), outraduçã.3 Auch wenn es den Anschein haben mag (und fälschlicherweise behauptet wurde), dass die Dichter der Noigandres-Gruppe, indem sie ein neues Übersetzungsprogramm aufstellten, adaptierende Übersetzungen oder Nachdichtungen4 angefertigt haben, ist das Gegenteil der Fall. Das Missverständnis wurde und wird durch die Tatsache befeuert, dass der von ihnen geführte, zunächst streitlustige und aufrührerische Diskurs über die Übersetzung letztendlich viel mehr Verbreitung fand als ihre eigenen übersetzerischen Werke. Der Begriff der poetischen Übersetzung der Konkreten Avantgarde wurde von den drei Schriftstellern der Gruppe gemeinsam entwickelt, aber letztlich vor allem von Haroldo de Campos theoretisch unterfüttert. Erst durch ihn wurde das bereits in den 50er Jahren praktizierte ästhetische Programm der Gruppe für die poetische Übersetzung mit seiner Konzentration auf das kritische Formbewusstsein theoretisch ausgearbeitet.Ihre eigens kommentierten Übersetzungswerke haben die Praxis der Poesieübersetzung in Brasilien über Jahrzehnte hinweg revolutioniert und begeistern seither Generationen von Leser·innen, Dichter·innen und Übersetzer·innen. Gleichzeitig schuf Haroldo de Campos mit seinem kosmopolitischen Geist, seinen internationalen Aktivitäten und seinem großen Interesse am Austausch mit Gesprächspartnern außerhalb Brasiliens von Anfang der 1960er bis Ende der 1990er Jahre eine kritisch-theoretische Reflexion über die poetische Übersetzung, die versuchte, die Erfindungen der Konkreten Avantgarde Brasiliens mit den wichtigsten zeitgenössischen theoretischen und philosophischen Diskursen zu verknüpfen. Dafür setzte er sich mit den Gedanken zahlreicher Autoren auseinander, wie Charles S. Peirce, Max Bense, Roman Jakobson, Walter Benjamin, Paul Valéry, Jacques Derrida, Henri Meschonnic und anderen. In seinen Überlegungen, die vor allem im akademischen Kontext entstanden, in dem er tätig war, hielt er an seiner Übersetzungspraxis fest, während er seinen theoretischen Diskurs überarbeitete. Dabei musste er mit seinen Argumenten kunstvoll jonglieren, um den strukturalistischen Horizont der Anfänge seines Werks an den poststrukturalistischen Kontext anzupassen, der den internationalen theoretischen Diskurs zunehmend bestimmte. Mit der Übernahme seiner Theorien durch die akademische Welt in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich der Harold’sche Übersetzungsdiskurs so sehr mit der Übersetzungspraxis, auf die er sich im Ursprung bezog, überlappt, dass er diese fast ausgelöscht hat. Daher rührt die irrtümliche, aber immer noch bestehende Vorstellung, dass eine Transkreation die Schaffung eines Textes sei, der dem Original „untreu“ würde. Die allzu direkte Verknüpfung der Theorie der Transkreation mit der Anthropophagie hat dies leider noch verschlimmert und den Eindruck erweckt, die brasilianische Avantgarde der Konkreten Dichter würde eine freie und adaptierende Übersetzung praktizieren.

Abb 3. Text von Oswald de Andrade und Zeichnung von Tarsila do Amaral, abgedruckt in: Revista de Antropofagia, Ano 1, No. 1, Maio de 1928, Faksimile-Edition, São Paulo 1975. © public domain

Die Verknüpfung der Übersetzungskunst mit einem anthropophagischen Akt à la Oswald de Andrade ist den Noigandres-Dichtern allerdings selbst geschuldet. In dem Buch Verso, Reverso e Controverso (1978), das unter anderem Übersetzungen der provenzalischen Trobadordichtung und der englischen metaphysischen Dichter enthält, erklärt Augusto de Campos als Erster, dass seine „Art, diese Dichter zu lieben, darin besteht, sie zu übersetzen. Oder sie zu verschlingen, gemäß dem anthropophagischen Gesetz von Oswald de Andrade: Ich interessiere mich nur für das, was nicht meins ist.“  Drei Jahre später veröffentlicht Haroldo de Campos seine Übersetzung von Fragmenten von Goethes Faust II, ein Buch, in dem er zum ersten Mal die sogenannte Theorie der Transkreation formuliert; in diesem Zusammenhang vergleicht er die Kunst des Übersetzens mit dem ursprünglichen Akt des Vatermordes (und bezieht sich auf Freuds Totem und Tabu (1913), einem für das Anthropophagische Manifest zentralen Text); schließlich sollte das Ziel der Übersetzung darin bestehen – wie Haroldo zugespitzt formuliert –, das Original zu übertreffen und es schließlich zu ersetzen. In demselben Buch bringt er die Übersetzung mit der etymologischen Bedeutung von „Parodie“ (Parallelgesang) in Verbindung, indem er eine isomorphe Ähnlichkeit zwischen Original und Übersetzung behauptet, die es der letzteren erlaube, das erstere zu ersetzen. In einem späteren Aufsatz bezieht er sich auf die „anthropophagische Vernunft“ und vertritt eine offen antikoloniale Haltung. Obwohl die Dichter der Noigandres-Gruppe sich über einen langen Zeitraum hinweg Oswald de Andrades Werk widmeten, muss ich hier anmerken, dass die Verbindung von Kunst-Übersetzung oder Transkreation mit der Anthropophagie eher aus einer bewussten Entscheidung der Konkreten Dichter herrührt, die sich in die Oswald’sche Abstammungslinie – teilweise a posteriori – einreihten, als einem authentischen Einfluss. Die Oswald’sche Antropophagie war, als das Übersetzungsprogramm der Konkreten Poesie formuliert wurde, gewiss kein entscheidender Bezugspunkt; erst später wurde sie Teil eines Metadiskurses, der den historischen Beitrag der Konkreten Poesie in einen größeren Kontext stellte.

Die unmittelbare Identifikation der Anthropophagie mit der Transkreation wurde nach der Veröffentlichung von Else Ribeiro Vieras Artikel „Liberating Calibans: readings of Antropofagia and Haroldo de Campos‘ poetics of transcreation“ in dem von Susan Bassnett und Harish Trivedi herausgegeben Sammelband Post-Colonial Translation: Theory and Practice (1999) international verbreitet. Ungeachtet des Verdienstes der Autorin, die brasilianischen Überlegungen zur literarischen Übersetzung innerhalb der Übersetzungswissenschaft eingehend darzustellen, stiftete dieser Artikel eine allzu enge Verbindung zwischen Anthropophagie und Transkreation (die sich seither in internationalen Publikationen fortsetzt, etwa in der 2001 erschienen, zweiten, erweiterten Auflage von Edwin Gentzlers einflussreichem und kompetenten Werk Contemporary Translation Theories). Durch die direkte Verknüpfung besteht die Gefahr, dass die historischen Besonderheiten der beiden brasilianischen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts verschwinden. In jedem Fall ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Oswald’sche Anthropophagie sich zu keinem Zeitpunkt auf die literarische Übersetzung bezieht und dass die Vorstellung einer Praxis der poetischen Übersetzung, die mit der Materialität des literarischen Textes in Einklang steht, in keiner Weise durch eine programmatisch verformende Aneignung des Originals definiert ist – ganz im Gegenteil.

Schließlich sollten wir noch, über die verlockende Kraft des Bildes des Kannibalismus nachdenken, der – ungeachtet des tatsächlichen anthropologischen Beweises seiner Verbreitung – Jahrtausende alte Assoziationen durchdringen und hervorrufen konnte. Durch die Übernahme der Metapher des Kannibalismus, die, jeglicher ursprünglicher, ritueller Körperlichkeit beraubt, als einfaches, von seiner Herkunft losgelöstes Bild, seine eigenen Assoziationsfelder vermittelt oder erzeugt, schuf Oswald de Andrade einen Diskurs der kulturellen Souveränität, der in Richtungen führte, die er selbst kaum vorausgesehen hatte. Bei der Wiederentdeckung durch die Konkrete Avantgarde wurde Oswalds Werk zerstückelt, und dieser Ausschnitt sollte – metonymisch – für das Ganze stehen. Doch vielleicht war es ein anderes, ebenso verlockendes, archaisches Bild, das einen Pakt zwischen Anthropophagie und Transkreation mit Blut besiegelte: der Vatermord. In der theoretischen Reflexion, die seine Übersetzung von Fragmenten von Goethes Faust II begleitet, stellt Haroldo de Campos fest, dass „die schöpferische Übersetzung, die vom Dämonischen besessen ist, weder pietätvoll ist, noch sich im Gedenken übt: Sie versucht in letzter Konsequenz, den Ursprung zu verwischen: das Original zu tilgen. Dieses vatermörderische Vergessen nenne ich, Transluzeration‘“ – letzteres ist eines der häufigsten Zitate aus der Theorie der Transkreation. Dieses Bild läuft allerdings Gefahr, vom Körper, von der Materie der poetischen Übersetzungen von Augusto und Haroldo de Campos, die immer erstaunlich nah an den Buchstaben des Originals sind, getrennt zu werden. Der Vatermord besteht in Wirklichkeit in der Souveränität der Übersetzung gegenüber dem Original, das angesichts eines solchen authentischen Doppelgängers obsolet zu werden droht. Die Übersetzung erlangt ihre Souveränität nicht dadurch, dass sie sich vom Original entfernt, sondern genau umgekehrt: Je mehr sie mit dem Original identisch ist, desto mehr wird sie in ihrem Anderssein unwiderruflich autonom.

Eine gewisse Zeit nach der Weitergabe dieses Spiels metaphorischer und metonymischer Verschiebungen, welches die Entwicklung der Konzepte der Anthropophagie und der Kunst-Übersetzung oder Transkreation prägte, wurde versucht, zur Körperlichkeit eines vermeintlichen Ursprungs zurückzukehren. Die Forschung zur Poetik der Übersetzung, die sich auf anthropologische Studien stützt, insbesondere auf die von Eduardo Viveiros de Castro, will diese verloren gegangene Verbindung wiederherstellen. Andererseits ergibt sich die Frage, wie das, was die Transkreation eigentlich ist, also die Tradition der poetischen Übersetzung, die von der brasilianischen Konkreten Avantgarde eingesetzt wurde, wieder bekannt gemacht werden kann? Wenn wir zum Korpus dieser Tradition, zu den Übersetzungen selbst zurückkehren könnten, ließen sich viele Missverständnisse vermeiden. Die Übersetzung einer Übersetzung? Ja: Haroldo de Campos hat, zum Beispiel, Hölderlins Sophokles-Übersetzung (vom Griechischen ins Deutsche) ins Portugiesische weiterübersetzt. In dem Essay, der seine Übertragungen von Passagen aus Hölderlins Antigone begleitet, widerspricht Haroldo der von Walter Benjamin geäußerten Ablehnung der Idee einer Rückübersetzung und besteht auf der ästhetischen Autonomie der Übersetzung, also auf der Tatsache, dass eine gelungene Übersetzung zu einem neuen Original wird. In diesem Sinne wäre es eine Überlegung wert, eine Anthologie mit Übersetzungen der Noigandres-Gruppe in anderen Sprachen zu veröffentlichen. Denn der Begriff der Identität, der der Kunst-Übersetzung zugrunde liegt, ist der eines gleichberechtigten Nebeneinanders von Original und Übersetzung, derselbe, der dem brasilianischen Concretismo eine Vorreiterrolle in den internationalen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts verschafft hat.

 

14.07.2023
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© Gabriela Pelosi

Simone Homem de Mello ist Autorin und Literaturübersetzerin. Sie lebte von 1993 bis 2010 in Köln und Berlin, wo sie auch als Dramaturgin, Librettistin und Redakteurin arbeitete. Sie schrieb Libretti zu folgenden Opern: Orpheus Kristall (Komposition: Manfred Stahnke, Biennale für Neues Musiktheater, München, 2002), Keine Stille außer der des Windes (Komposition: Sidney Corbett, Bremer Theater, 2007), UBU – eine musikalische Groteske (Komposition: Sidney Corbett, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen, 2012). Ihre portugiesischsprachige Lyrik ist in Périplos (2005), Extravio Marinho (2010), Terminal, à Escrita (2015) sowie in brasilianischen und ausländischen Anthologien gesammelt. Als Literaturübersetzerin widmet sich der modernen und zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik und dem Werk von Peter Handke. Von 2012 bis 2014 leitete sie das Referenzzentrum Haroldo de Campos im Museum Casa das Rosas (São Paulo), wo sie heute als Forscherin tätig ist. Seit 2011 leitet sie das Studienzentrum für Literaturübersetzung im Museum Casa Guilherme de Almeida (São Paulo). Von ihr erschienen zuletzt die Bücher Augusto de Campos – Poesie (zweisprachige Anthologie: Portugiesisch/Deutsch, 2019) und Haroldo de Campos Tradutor e Traduzido (als Mitherausgeberin, 2019).

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