TALKS TUPI OR NOT TUPI Die uralte Berührung
de en

Die uralte Berührung

Ein kleiner, hagerer Mann mit einem abgetragenen, dunkelgrünen Anzug, leuchtend rotem Bart und einem weit über den Kopf gezogenen Strohhut steigt auf dem Praça da Sé in São Paulo aus einem Reisebus. Er wird von einer Person ähnlicher Körpergröße, breiter gebaut, mit einer luftigen Tunika, europäisch gearbeiteten Lederschuhen, haarlosem Kinn, dunklen, leuchtenden Augen und einem braunen Der Pate-Hut, unter dem ein schwarzer, geflochtener Zopf hervorschaut, per Handschlag begrüßt. Gemeinsam gehen sie in eine nahegelegene Lagerhalle.

In der hinteren linken Ecke des sonst leeren Raums steht ein breiter Schreibtisch aus Jacarandaholz, flankiert von zwei niedrigen, dreibeinigen Holzhockern. Ein fruchtiger, leicht ranziger Geruch von überlagertem Palmöl liegt in der Luft. Die beiden Männer nehmen Platz. Sie kennen sich aus dem Internet.

Aus der Innentasche seines grünen Jacketts holt der Reisende ein kleines Päckchen hervor. Es ist mit Butterbrotpapier umwickelt, das von einer Packschnur zusammengehalten wird. Behutsam legt er es auf die wild gemusterte, abgenutzte Schreibtischplatte und schiebt es langsam auf die Seite seines Gegenübers, wobei er sich, so weit er kann nach vorne lehnt bis sein Hocker leicht zu kippen beginnt.

Der Einheimische, der sich online Angstesser nennt, streckt die Hand aus und streift mit einem dosiert freundlichen Blick den tierernsten Gesichtsausdruck des Reisenden. Er greift das Päckchen mit der methodischen Ernsthaftigkeit einer Baggerkralle, hebt es an, holt es zu sich heran und legt es vor sich ab. Wie sein Name andeutet, ernährt sich Angstesser von den Ängsten anderer – nicht wie eine Versicherungsfirma, sondern als einer der letzten Praktizierenden eines alten antropophagen Rituals. An einen Mikadospieler erinnernd, löst Angstesser die festen Knoten der Packschnur mit den werkzeugähnlichen Fingernägeln seiner beiden Zeigefinger. Froh darüber, dass noch kein Wort gesprochen wurde, wartet der Reisende geduldig ab und beobachtet.

Angstesser beugt sich zum Päckchen herunter und spreizt die Verpackung mit seinen Fingern. Einige Sekunden lang blickt er auf den Inhalt, dann schüttelt er langsam den Kopf. Unmissverständlich signalisiert er, dass die Reise des Reisenden umsonst war: fünfundzwanzig Stunden mit dem Regionalzug von Arles über Paris nach Le Havre. Vier Wochen mit der S.S. City of Paris II von Le Havre nach Rio de Janeiro. Einen Tag mit dem Reisebus von Rio de Janeiro nach São Paulo und jetzt wieder zurück.

Die Enttäuschung des Reisenden darüber, dass der Inhalt seines Päckchens verschmäht wurde, wird von dem elektrisierenden Gefühl überwogen, eine neue Erkenntnis gewonnen zu haben. Während Angstesser das Päckchen und die dazugehörige Packschnur mit einer Kontramimik aus zusammengezogenen Augenbrauen und Lächeln zurückschiebt, versucht der Reisende seine Gedanken innerlich in Worte zu fassen.

Wahre Berührung gibt es erst im Tod. Zwei Todesursachen kommen dabei in Frage: Ertrinken und Gefressen werden. Sie sind das unrühmliche Ende der Helden und das rühmliche Ende der Antihelden.

Ohne Reue darüber, von seiner ziemlich konsequent vollzogenen digitalen Askese abgewichen zu sein, sich online mit jemandem verabredet zu haben und dafür um die halbe Welt gereist zu sein, blickt der Reisende etwas entgegen, von dem er noch nicht wusste, was es bedeuten könnte: Abenteuer. Oder Selbstmord.

Ein Gewittergrollen, das sich sogleich als Trolleykarawane herausstellt, zieht von einem der Shuttlebusse heran und reißt den übernächtigten Reisenden aus seinen Gedanken. Gemeinsam gehen sie an Bord der S.S. Gascogne II. Das einhundertfünfzig Meter lange Schiff ist die Replik eines Dampfschiffs, das vor über hundert Jahren Passagiere zwischen Europa und Südamerika über den Atlantik befördert hat. Unter dem Begriff des Slow Traveling bietet ein französisches Unternehmen Reiseerfahrungen wie von „damals“ an. Dampfkraft wird als neuer Antrieb mit nachhaltigen Energiequellen beworben. Der Brennstoff besteht zu einhundert Prozent aus menschlicher Biomasse. Auf französischer Seite wird das Dampfschiff mit Fäkalienschlamm-Pellets der Firma Seine Sustain beliefert, die aus den Abfallprodukten Pariser Kläranlagen gewonnen werden. In Brasilien wird das Schiff mit Biogas betankt, welches von der Firma Bio Breeze Bahia mit Hauptsitz in Salvador produziert wird. Es sammelt und verarbeitet organische Abfälle von Trockentoiletten aus den Regionen Piauí, Maranhão und Paraíba – Gegenden mit unzureichenden Abwassersystemen – und wandelt diese in Flüssigmethan um. Beide Firmen gehören zu einer deutschen Holding. Nicht verwunderlich – Deutschland hatte ja schon immer eine besondere Beziehung zu Scheiße, denkt der Reisende als gebürtiger Holländer.

Während die anderen Passagiere ihr Gepäck in den Kajüten verstauen, geht der Reisende auf die andere Seite des Fäkaldampfers und blickt Richtung Osten. Der Horizont erfüllt sein gesamtes Sichtfeld. Links, da wo die Reise hingeht, braut sich ein Gewitter zusammen. Rechts glitzert eine Yacht am Horizont. Die gleiche Ausgangssituation wie auf dem Gemälde Das Floß der Medusa, denkt er, und erinnert sich an seinen letzten Besuch im Louvre, wo er das über sieben Meter breite und fünf Meter hohe Gemälde vor ein paar Jahren bestaunt hat. Es zeigt eine Gruppe von Menschen, die sich inmitten des Ozeans auf einem improvisierten Floß befinden. Den unteren Teil des Bildes rahmen die bleichen Körper von Leichen. Nach rechts formiert sich aus der Gruppe eine aufsteigende Menschenpyramide, gekrönt von einem athletischen schwarzen Mann, der in Richtung eines kaum sichtbaren Schiffes am Horizont winkt, in der Hoffnung auf Rettung. Ein Segel, das an einem kurzen Mast befestigt ist, bläht sich links des Floßes auf und weist in Richtung eines herannahenden Gewitters.

Mehr noch als von Wasser und Wellen ist der Maler, Theodore Géricault, fasziniert von der Ästhetik toter Menschen. Aus einem Krankenhaus besorgt er sich Leichenteile, von denen er, wie andere von Früchten und Fasanen, Stillleben zeichnet. Über Wochen studiert er die wechselnden Farbtöne verwesender Haut an einem abgetrennten Kopf, bis er diesen, wegen des Geruchs, auf seinem Dach deponiert. Im Beaujon-Krankenhaus skizziert er die Gesichtsausdrücke sterbender Patienten und die Haltung von Körpern in Leichenstarre. Das Floß der Medusa wird zu seinem Lebensprojekt. Das Gemälde soll Aufsehen erregen. Deshalb bezieht er sich auf einen Vorfall, den die französische Marine am liebsten aus den Geschichtsbüchern gestrichen hätte. 1816, nachdem England die Kolonie Senegal an Frankreich zurückgegeben hat, wird ein Schiff dorthin entsandt, die Méduse. Sie steht unter dem Kommando von Hugues Duroy de Chaumareys, einem Schreibtisch-Kapitän, der fünfundzwanzig Jahre lang nicht auf See war und durch Vetternwirtschaft zu seiner Position kommt.

Unter seiner Führung läuft das Schiff vor der Küste Senegals auf Grund. Chaumarey befiehlt die Zerlegung der Méduse und die Errichtung eines großen Floßes aus dem gewonnen Holz. Es soll von den insgesamt sechs, bereits voll besetzten Rettungsbooten an Land gezogen werden. Das Floß bewegt sich nicht von der Stelle. Schließlich werden die Seile gekappt. Einhundertneunundvierzig Menschen bleiben auf dem Floß zurück. Nachdem das Trinkwasser aufgebraucht ist, bleibt der Besatzung nur noch, Weinbrand und Rum zu trinken. Berauscht und verzweifelt kommt es zu Meuterei und Kannibalismus. Fünfzehn Überlebende werden gerettet, von denen fünf weitere kurze Zeit später sterben.

In seinen Vorstudien wird deutlich, dass Géricault sich für drei Motive interessiert: Meuterei, Kannibalismus und Rettung. Trotz seiner tiefen Faszination für Leichen und abgetrennte Körperteile entscheidet er sich nicht für Kannibalismus, sondern für das Motiv der Rettung. Er entmystifiziert die Gewalt und holt sie aus dem Exotischen ins Innere der französischen Gesellschaft, die noch lange nicht alle Revolutionen auf dem Weg zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit hinter sich hat. Prominent setzt er einen schwarzen Matrosen an die Spitze der Menschenpyramide. Das Floß wird zum Doppel-Symbol für Revolution und Untergang. Die Angst davor, dass alle Menschen gleich werden könnten, droht Wirklichkeit zu werden. Um die zur Entropie verdammte Ordnung Europas umzukehren, muss nach dem zweiten thermodynamischen Gesetz Energie und Materie aus den Tropen zugeführt werden. Europa importiert Manpower und Rohstoffe aus den Kolonien, um der inneren Unordnung, dem Aufbranden eines akritischen Chors der Sirenen, der immerhin die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, entgegenzuwirken. Die letzten Überlebenden auf dem Floß der Medusa, die ausgemergelt und schwach sein müssten, stellt Géricault protomännlich muskulös und stark dar. Sie stemmen sich mit ihren harten, gestählten Körpern gegen das Meer, das weiche, anpassungsfähige, chaotische und tödliche Element, dem altgedienten Männersymbol für Weiblichkeit. Der Untergang der Méduse ist nicht nur das Ende ihrer Besatzung, sondern das Ende der Männlichkeit überhaupt. In einer Symphonie männlicher Begierde verschlingen sich die kastrierten, entmachteten Körper der letzten Überlebenden ineinander, eine Weiblichkeit, die ohne Frauen dargestellt wird, schreibt Linda Nochlin. Das Versagen dieser Männer ist der Sieg der Frau und der Sieg des Kannibalen: der Einbruch der patriarchalen Weltordnung, die darin scheitert, sich durch den Kolonialismus zu stabilisieren.

Der Kannibale ist der Freund der Frau. Er zerbeißt die soziale Struktur, zerkaut die patriarchale Ordnung. Er zerwirkt die Außengrenzen des Gefressenen, zerteilt ihn in Einzelteile, verdaut ihn und zwingt ihn zu einem Akt maximal sinnlicher Berührung. Irreversibel verwandelt sich sein Fleisch in Wärme. Der Fressende und der Gefressene, beide sind Kannibalen; Zerstörer der sozialen Ordnung und die zerstörte soziale Ordnung selbst; Berührende und Berührte durch die Grenzen.

Interessant wäre es, wenn dieser Kackdampfer hier untergeht und alle ertrinken, denkt sich der Reisende. Dann geht er in seine Kajüte, zieht sich nackt aus und legt sich auf den Fußboden. Er presst seine Schläfe an den Teppich und versucht zu schätzen, wie viel Stahl darunter liegt, der ihn vom Atlantik trennt. Sein Körper vibriert, als er aufwacht. Die Schiffsmotoren wurden gestartet. Er hat Kopfschmerzen, Hunger und wahrscheinlich einen Sonnenstich.

Einmal hat er an einem Kongress für neue Männlichkeit in Essen teilgenommen. Für die Übernachtung hatte er sich für einen Rudelschlafplatz entschieden, ein Zimmer in einem Hostel mit sechs Stockbetten, das er sich mit elf anderen Männern teilen musste. Er wählte ein oberes Bett. Der junge Mann unter ihm, ein Philosophiestudent aus Greifswald, drehte sich die ganze Nacht im Schlaf, wovon der Reisende gefühlt alle fünfundzwanzig Minuten wach wurde. Er schlief länger als die anderen, bis sich seine Bronchien langsam mit dem Aerosol aus elf Dosen Axe füllten, die sein Rudel nach der Morgendusche im Raum versprühte. Noch halb schlafend, fand er den Kortison-Inhalator in seinem Kulturbeutel und beruhigte den sich anbahnenden Asthmaanfall. Mühsam zieht er sich, noch auf dem Boden liegend, seine Leinenhose an.

Auf dem Kongress wurde ständig über die Abnabelung von der Mutter gesprochen, die der wichtigste Schritt bei der Mannwerdung sei. Je mehr er davon hörte, umso falscher klang es. Es schien absurd, dass ein Gefühl wie einmal eins mit einem anderen Lebewesen gewesen zu sein, durch Jiu-Jitsu Training oder einen zusätzlichen Computermonitor kompensiert werden sollte. Er wollte einfach wissen, wie er diese Innigkeit wieder herstellen konnte, ohne dass es komplett awkward wurde. Wenn er und seine Mutter sich trafen, saßen sie unbeholfen nebeneinander, zwischen ihnen kubikmeterweise ungestalteter Raum. Er zieht sich sein weißes Leinenhemd über und knöpft es zu.

Neunzig Prozent aller Männer, mindestens, da ist er mit Klaus Theweleit einer Meinung, sind Vollidioten. Er mag Frauen, auch wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruht. In seiner Wahlheimat Arles war er neulich, zum ersten Mal, im Paradis des Sens. Der Besuch war ziemlich nach hinten losgegangen. Die Sex-Workerin wusste überhaupt nicht, was sie mit seiner Darbringung anfangen sollte. Stattdessen drohte sie ihm damit, die Behörden einzuschalten. Im Tausch gegen ein selbstgemaltes Bild, den Rosengarten, bekam er das in Butterbrotpapier gewickelte, mit Packschnur fixierte Päckchen zurück. Sie hatte es in der Zwischenzeit als Beweisstück in ihrem Kühlschrank aufbewahrt. Es war schlau, es zu kühlen. Das hätte er auch tun sollen, anstatt es wochenlang in der Innentasche seines Jacketts mit sich herumzutragen. Er nimmt das Jackett vom Stuhl und tastet es ab. Das Päckchen ist noch an seinem Platz.

Er steht auf, wozu er sich auf sein Bett stützen muss. Während er sich sein Jackett anzieht, schaut er in den Spiegel. Seine Pupillen sind so groß, dass sie seine blau-grüne Iris fast vollständig verdecken. Jetzt fällt ihm auf, dass niemand in Brasilien besonders auf seinen leuchtend roten Bart reagiert hat, zumindest nicht ansatzweise so, wie die sonst als eher zurückhaltend geltenden Menschen in Japan angeblich manchmal auf die großen Nasen von Europäern reagierten, die sie, Erzählungen glaubend, sogar anfassten und dann „Sugoi!” riefen und sich gegenseitig ansahen, als seien die europäische Nase und der dazugehörige Europäer lustige Scherzartikel.

Je länger er sich ansieht, umso mehr begreift er sich selbst als einen Scherzartikel. Er hat nicht nur eine übertrieben lange Nase, sondern auch eine übertrieben lange und teure Reise von Arles nach São Paulo gebucht, um einen Mann zu treffen, der sein Ohr verspeisen sollte. Er liebt Triste Tropen und hasst Reisen und Entdecker genauso wie Claude Lévi-Strauss. In etymologischen Wortspielen erkennt er mystische Offenbarungen, so wie andere in Ziffern und Zahlen. Jetzt, wo er darüber nachdenkt, fällt ihm die Mehrdeutigkeit von Triste Tropen (τροπή) als traurige Wende auf: die eigene Frustration über das verfehlte Ziel seiner Reise; das traurige Schicksal der indigenen Völker; die Traurigkeit über die verpasste Chance einer Abkehr vom tragischen Kurs der kindischen, unersättlichen Europa. Und die lustige Verbindung zwischen Entropie und Tropen war ihm ja vorhin schon aufgefallen. Hätte man damals doch nur den Mut bewiesen, sich verschlingen zu lassen. Hätte man sich getraut, seine Ordnung aufzugeben. Hätte man den Ungehorsam gewagt — gegenüber den Oberen und seinem stromlinienförmigen Überich – dann wäre jetzt alles besser. Hätte, hätte, durch den Dschungel mit Machete. Hätte, hätte, Samba tanzen mit Trompete. Er summt, während er sich seinen Strohhut tief ins Gesicht zieht, damit man den Verband nicht sieht, den er sich mehrfach um den Kopf gewickelt hat. Er ist jetzt plötzlich gut gelaunt und verlässt seine Kajüte beschwingt in Richtung Speisesalon.

Beim Treppensteigen spürt er deutlich die Bewegung des Schiffs. Um zum Speisesaal zu gelangen, überquert er das Deck und stellt fest, dass sie erst eine gute halbe Meile von der Küste entfernt sind. Die Passagiere an der Reling tragen Kostüme, die aussehen wie von 1888, dem Jahr in dem Brasilien die Sklaverei abgeschafft und Vincent van Gogh sich sein linkes Ohr abgeschnitten hat. Der Speisesalon des Dampfers erstreckt sich über die volle Breite des Schiffs. Zwei Reihen Marmorsäulen gliedern den Saal in drei Teile. Der Boden ist mit einem weichen, roten Teppich ausgelegt und die Wände sind mit dunklem Mahagoni verkleidet. Man fühlt sich fast so wie im Inneren eines Magens. Mehrere große Fenster ermöglichen den Blick auf das Meer. Die gedeckten Tische sind gleichmäßig im Raum verteilt. An einer Seite des Raumes befindet sich eine kleine Bühne. Ein Streichquartett stimmt den Kammerton A an. An einem Tisch in einem durch Glasscheiben abgetrennten und durch intensive Grüntöne abgehobenen Essbereich sitzen Gäste, die bereits zu essen scheinen, wobei sie den Eindruck erwecken, als würden sie das Essen nicht in sich hinein, sondern aus sich heraus, aus den Mündern der Zukunft auf die Teller der Gegenwart schaufeln. Dabei sperren sie ihre Kiefer ungewöhnlich weit auf — wahrscheinlich, um sich mit den Gabeln nicht den Gaumen zu zerkratzen oder die Zunge aufzuspießen. Eine Glocke ertönt. Der Reisende hat jetzt doch keinen Appetit mehr und zwängt sich durch die Menge der Passagiere, die ihm entgegen in den Speisesaal strömen.

Er läuft über das Deck in Richtung Heck. Die Familie aus dem grünen Glasspeisesaal steht jetzt steuerbords an der Reling. Es sieht aus, als wäre sie vorher vor einem Green Screen gefilmt worden und wie bei Titanic per Chroma-Keying in ein CGI Modell eingefügt. Wenn sie sich rückwärts durch die Zeit bewegten, müsste für sie jetzt gerade kurz vor Abendessen sein. Bald würden sie von Bord gehen, bzw. rückwärts an Bord gehen, was auf das Selbe herauskommt, also alles gut. Er läuft an ihnen vorbei. Ein Hut kommt aus der Luft geflogen und landet auf dem Kopf eines blonden Jungen.

Das Heck ist menschenleer. In der Luft dahinter schwirrt eine Armada von Seemöwen. Einzelne von ihnen stürzen aus der Menge in die Tiefe, um Sardinen und Makrelen, die von der Schiffsschraube aufgewühlt werden, aus der Gischt zu fischen. Er stellt sich vor, wie die Möwen große Brüste haben, was er überraschend anziehend findet, anziehender jedenfalls, als er Brüste an Frauen oder Frauen an sich findet. Vermutlich liegt es an seinem Faible für die griechische Mythologie, in der er, wie Pascal Quignard, Antworten auf viele Fragen findet.

In den Sirenen manifestiert sich auf verschrobene Art eine zunächst plausible Angst der Seefahrer vor dem Ertrinken, die zur metaphorisch stilisierten Angst wird, verschlungen zu werden. Das Ertrinken ist die größtmögliche Berührung des Körpers: das Wasser umschließt die Haut und dringt schließlich in Lunge und Bronchien. Der Versuch, sich gegen diese tödliche Form der Berührung zu wehren, das verzweifelte Rudern, Befehle und Befehlsketten, Panzer jeder Art, bezeichnen sie als Männlichkeit.

Den zerstreuenden, chaotischen, akritischen Gesang der Sirenen übertönt Orpheus mit dem ordnenden, männlichen Spiel auf einer modifizierten Laute, einem Schildkrötenpanzer, den er mit neun Darmsaiten bespannt hat und in strengen Rhythmen mit einem Plektrum schlägt. Quantisiere und herrsche. Die Musik domestiziert den Lärm, das Geräusch, den ungeordneten Klang und stellt die Schiffsordnung wieder her. Keine Berührung, kein Ertrinken, kein Verschlungenwerden. Doch: Einer der Ruderer steht auf, geht an Deck und springt von Bord. Er heißt Butes. Er wird zur Galionsfigur der uralten Berührung: der, der sich hingibt und seine Identität aufgibt. Er versinkt in den Fluten. Das Wasser läuft ihm in die Ohren, Nase und Mund. Aphrodite rettet ihn, schläft mit ihm und schubst ihn zurück ins Meer. Für immer ungeboren. Butes lebt den Traum des Reisenden.

Wahrscheinlich sollte er, wenn er zurück in Arles ist, anfangen Musik zu machen statt Bilder zu malen, denkt der Reisende. Er holt das Päckchen aus seiner Innentasche und wirft es über die Reling. Von den Windböen löst sich das Butterbrotpapier, das nicht mehr durch die Packschnur gesichert ist. Das Ohr, das sich der Reisende fast zwei Monate vorher abgeschnitten hat, schält sich heraus. Es ist dunkelbraun und grau geworden und hat Löcher bekommen, die von der Sonne durchschienen werden, die hinter Brasilien untergeht. Kurz bevor es von einer Bugwelle verschluckt wird, stürzt eine Möwe aus dem Himmel und schnappt das Ohr aus der Luft. Sie fliegt ein paar Meter weiter und landet im Wasser. Mit einer ruckartigen Bewegung schlingt sie die Hälfte des Ohrs herunter. Nach einer zweiten und dritten Bewegung verschwindet das Ohr in ihrem Hals. Der Reisende ist zufrieden. Weil die höchste Form der Anthropophagie nicht das Fressen, sondern das Gefressen werden ist. Gefressen von einer Möwe. Na immerhin.

31.08.2023
PDF

Nico Sauer mit Filmrequisite ©privat

Nico Sauer ist Komponist, Videast, Performance- und Konzeptkünstler aus München, wohnhaft in Berlin-Schöneberg. Er studierte Komposition bei Wolfgang Rihm (BA) und Manos Tsangaris (MA). Seine diversen Tätigkeitsbereiche verbinden sich in seinen Arbeiten fließend. Die Grenzen von Bühne und Leinwand versucht er so zu perforieren, dass Realität und Fiktion in Wechselwirkung geraten. Er schafft Situationen, in denen kontigente Ereignisse, komponierter Klang, choreographierte Bewegung und inszeniertes Spiel miteinander verschmelzen. In Monstercall (seit 2022) schafft er den Mythos um das Ungeheuer Tegli, das im Tegeler See zuhause sein soll und regelmäßig zum Mittelpunkt künstlerischer Aktivitäten und wissenschaftlicher Spekulationen wird. Moonbreaker 2121 (seit 2021) ist das erste Musikfestival, das in knapp 100 Jahren auf dem Mond stattfinden soll. Durch die Jahre spinnt das 360°-Multimediaspektakel, das fester Programmteil des Berliner Zeiss-Großplanetariums ist, halsbrecherische künstlerische Visionen und groteske gesellschaftliche Utopien. Im Dezember 2023 unternimmt Sauer mit Atlantide Acide eine Reise ins Innere seines eigenen Körpers, die er in Form eines Monodrams im Bauch eines Frachtkahns auf dem Kanal St. Martin in Paris inszeniert. Auf der Biennale 2024 in München stellt Sauer das Personenbeförderungstheater RÜBER vor, das im Inneren einer durch die Stadt fahrenden Limousine spielt.

Der Text Die uralte Berührung entstand als Vorstudie für das Musiktheater-Monodram Atlantide Acide, das vom 14. bis 16. Dezember 2023 an Bord des Frachtkahns La Pop in Paris aufgeführt wird. Tickets sind bereits erhältlich.

Verwandte Artikel
31.08.2023
Verschling(ung)en – Zum kannibalischen Übersetzen eines kannibalischen Textes
Haroldo de Campos: Cadavrescrito (Galáxias) Übersetzung und Kommentar
14.07.2023
Von den Verlockungen des Kannibalismus und des Vatermordes
Eine Reflexion über die Weitergabe von Schlüsselkonzepten der beiden brasilianischen Avantgarden der Moderne
31.05.2023
Kannibalismus
31.05.2023
Anthropophagie und Gastfreundschaft
zu Oswald de Andrade und Haroldo de Campos
31.05.2023
Kannibalisches Übersetzen oder Zur Poetik der Einverleibung