Verschling(ung)en – Zum kannibalischen Übersetzen eines kannibalischen Textes
Haroldo de Campos: Cadavrescrito (Galáxias) – Übersetzung und Kommentar
Die galáxias von Haroldo de Campos (1929-2003) lassen sich nicht übersetzen. Der episch-epiphane Zyklus von Prosadichtung, den de Campos zwischen 1963 und 1976 schrieb,1 stellt ein nicht einzuordnendes Gemisch, einen bunten Eintopf aus Reiseerlebnissen, literatur- und kulturhistorischen sowie populären Referenzen dar. Die Fragmente2 folgen in ihrer Aneinanderreihung von Anspielungen auf unterschiedlichste Kontexte scheinbar einer Eigendynamik der Sprache, die sich darin nicht einmal an nationale Sprachgrenzen hält, sodass sie sich in jeglicher Hinsicht einer Übersetzung, wie sie herkömmlich verstanden wird, versperren.
In der Tradition der konkreten Dichtung und Haroldo de Campos’ Weiterführung und Verallgemeinerung derselben als Konkretion der Sprache3 liegt der Fokus auf dem Sprachmaterial, nicht auf dem was, sondern auf dem ‘wie der Nachricht’. Aber diese Beschreibung erfasst das poetische Verfahren der galáxias nicht ganz, denn sie bestechen zugleich durch ihre Referenzialität: Signifikat und Signifikant fallen hier zwar immer wieder in eins und führen tiefer in ein klanglich/schriftlich/bildliches Sprachengewirr, aber in dieses Sprachspiel stellt sich Semantisches, das übertragen werden will.
Sich der scheinbar unmöglichen Aufgabe des Übersetzens dieser Fragmente zu stellen, heißt hier auch de Campos’ Arbeit als Übersetzer und seine Übersetzungstheorie heranzuziehen und durch die eigene Übersetzungsarbeit wirken zu lassen. Es heißt, sich dem Fressen-und-gefressen-Werden, das diese Übersetzungstheorie impliziert,4 hinzugeben. Man möchte meinen, dass das eine einfache Lösung für ein komplexes Problem ist, bis man inmitten des ‘verkauderwelschten Portogallischen’ steht und sich in den Verzweigungen von de Campos’ ‘babelório’ verloren hat. Zwischen Binnenreimen, Alliterationen, Enjambements, Komposita und Transpositionen folgt der Griff nach anderen Übersetzungstheorien, zur Anreicherung und Befremdung der Zielsprache, zur vorgreifenden und nachfassenden kompensierenden Übersetzung und zur Nachdichtung der Produktionsprinzipien, die wenigstens zur momentanen Bewältigung des Problems verhelfen. Aber eine einfache Lösung ist das nicht, auch weil die galáxias keine übersetzende Loslösung ermöglichen. Hier wird nicht von Sprache A zu Sprache B über(ge)setzt. Die galáxias bringen ihre zum Bersten vollgepackten Koffer mit auf die Reise und der Versuch des Übersetzens von einem Sprachhafen zum anderen führt notwendigerweise zu einer Auseinandersetzung mit diesem Gepäck – irgendetwas muss man ja tragen, auf so einer Seereise. Und so wühlt sich die Übersetzerin durch das Sprachmaterial, schmückt sich mitunter mit fremden Federn und zieht (sich) immer wieder um. Was für ein paar Verse scheinbar passt, rutscht und zwickt einige Verse später. Ein einfaches Umkleiden reicht wohl nicht für die Übersetzung, aber es ist gut genug für den Gang in die Kombüse und einen Blick in den Maschinenraum.
Auf zum großen Fressen: cadavrescrito als anthropophages Prosagedicht
Cadavrescrito begegnet der Leserin zunächst als Schrift, genauer als toter ‘Schriftleichnam’, und verlässt sie als ‘ersungenes Singen’. Dazwischen liegt eine Klang- und Textlandschaft, die sich in einer fast anstößigen Respektlosigkeit tote Schriftkörper einverleibt,5 in die Gesellschaft von Glücksspiel, Satire und Bossanova stellt, und so nach und nach den Schiftleichnam zu klingendem Gesang verdaut.
Die Erzählungen von Tausendundeine Nacht figurieren in cadavrescrito als bloße lose Blattsammlung von ‘tausendundeiner Seite’ – keine Rede vom erzählenden Ringen um Leben und Tod der Scheherazade, von ihrem lebendigen Wort. Denn das ist bereits Schriftleichnam geworden und reiht sich ein in die ‘toten Zungen’, die verkostet und, wenn für brauchbar befunden, gegessen werden. Die Ilias wird kurzerhand ganz und gar verspeist, sodass nur noch die ‘Nixiliade’ bleibt. Das Kap Finisterre dagegen wird nicht in Gänze benannt, sondern nur als ‘Ende der Erde’. Sein Kap ist schon verschluckt und sein Hafen ist nicht Ausgangspunkt von Reisen, nicht der von Oswald de Andrade in seinem Anthropophagen Manifest ausgeschlagene Beginn der “Geschichten der Menschheit”,6 sondern ein Ort, der gerade nicht verlassen werden soll. Babel befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft eines überbordenden Bordells, ohne dass eines von beiden von Gotteszorn getroffen würde. Die penible Begriffsarbeit moderner Literaturtheorien verschiebt sich zu von ihren Ausscheidungen besessenen Seidenraupen. Auf diesen seidenen Ausscheidungsfaden werden sogleich der Simplicissimus, Hieronymus7, Jan Hus8, Goethe9 und Gertrud Stein gezogen. Wobei sie nicht beim Eigennamen genannt werden, sondern nur Artefakte ihres Wirkens, ihre Schriftleichen angerufen werden. Der Faden, den die Artefakte zu ihren Urheber·innen spinnen, ist denkbar dünn. Gerade in der ‘Heiligen Einfalt’ zerteilen sich die Fäden. Sie hat keinen einen Ursprung, sondern referiert auf mindestens drei kulturhistorisch relevante Quellen, ohne dass sich der cadavrescrito an einer von ihnen festhalten, abarbeiten würde. Er spielt mit seinem Essen, verdaut und verflüssigt es zu Schrift/Klang/Bildern, zu ‘Kantilauen’, und beginnt, sich selbst als reich gedeckte Tafel zu fressen.
Was in den ersten zwei Dritteln des großen Fressens der Schriftleichen der Anderen die neologistischen Komposita zusammengehalten hat, trägt in seinem letzten Drittel – im Verdauungstrakt des Gedichtes – zur Zersetzung und Verknappung der Sprache bei. Die fehlende Interpunktion hält im gesamten Text dazu an, sich (vor)lesend sinnstiftende und klingende Wortgruppen zu erschließen und entsprechende Schnitte zu setzen. Die Schnitte, die der Text typographisch durch seine Unterteilung in Verse setzt, können nicht als Interpunktionsersatz herhalten, weil sie allzu häufig von Enjambements überzeichnet werden. Im letzten Drittel verkompliziert sich dieses Übergreifen von Satzfragmenten von einem Vers zum nächsten: Einige dieser Satzteile stehen hier in Doppelbeziehungen zu anderen. Mancher Satzteil löst sich über diesen Beziehungen gar in einzelne Wörter auf und fordert dazu auf, diese nun doppelt zu ‘verkosten’. Der Text verdaut sich selbst, verknappt und verdichtet sich.
Gegen die Verknappung reichert jedoch das fortgeführte Spiel mit kulturellen Referenzen den Text weiterhin an, wenn auch weniger dicht als in den ersten zwei Dritteln. So treffen wir als (vor)letzten toten Schriftkörper die Literaturzeitschrift Delle Botteghe Oscure an, die sich klanglich in den Binnenreim der zwei vorangegangenen Verse einfügt, ohne jedoch mehr Gewicht als eben dieser zu erhalten.
Auf die Zeitschrift folgt zuletzt die gesungene Sprache: Nem vem que não tem ist ein Lied des populären brasilianischen Pilantragem-Sängers Wilson Simonal. Mit dem Gesang tritt ein Ich in den Text ein, das nach einer kurzen Auseinandersetzung mit dem Du den Text übernimmt. Nun ist das Ich an der Reihe: Es (er)zählt (nicht) und singt.
Nachdem der Text gefressen und verdaut hat, geht das Ich zur Schöpfung über. Ersingend und erzählend entsteht eine ganze Welt mit ‘Erde, Sonne, Meer und Eer’. Damit ist der Text beim wirklich letzten großen Schriftleichnam angelangt, dem Buch Genesis. Aber auch nicht, denn es wurde bereits gefressen und verdaut. Was im Text verbleibt, ist nicht das gesprochene, befehlende Wort Gottes, sondern Gesang und Erzählung. Diese Schöpfung ist keine, die ihr bleibendes Werk in den Mittelpunkt stellt. Sie hinterlässt keinen Schriftleichnam. Sie verlässt die Leserin singend und dieser ‘Gesang ersingt nur singen’. Er schöpft nur noch sich selbst. Dieser Klangkörper bleibt nicht, sondern vergeht mit dem letzten Wort des cadavrescrito.
Das Kannibalische der poetischen Sprache
Aber nicht nur literarische und kulturelle Referenzen werden verschlungen und verschlingen sich weiter, auch die Sprache selbst als Ausdruck einer (nationalen oder sozialen) Identität wird kannibalisch. Das wiederholte Auftauchen von der vermeintlichen Ursprungssprache fremden Wörtern in den galáxias zeugt bereits von einer Einverleibung des Anderen als Sprache in den Schriftkörper, der dadurch als schon immer mit sich selbst uneins erscheint. Da Sprache, insbesondere als Schrift, hier untrennbar mit einem (Ver)Kosten und einem (mitunter bitteren) Geschmack auf der Zunge verknüpft sind, ergibt sich das Bild eines abschmeckenden Auswählens und letztlich Verspeisens des Anderen als Sprache. Diese wird durch das Verspeisen und Verdauen aber nicht angepasster Teil des Eigenen, sondern reichert den Text und dessen Ursprungssprache vielmehr in ihrer bleibenden Andersartigkeit an. Oder anders – im Schriftkörper, der als ‘Vagamund(o)’ mit seinem ‘Zauberkoffer’ die Welt bereisend immer neue Wörter sammelt und sich einverleibt, wird die Sprache bereichert, erneuert, ‘verschillert’.
Dass auch solch ein Aufnehmen des Anderen ins Eigene keineswegs immer in aller Ernsthaftigkeit vonstattengeht, und dass solch ein sich gegenseitiges Verschlingen von Sprachen durchaus komisch sein kann, darauf weist die ‘Macarroníada’ hin. Bei der Makkaronischen Dichtung, die hier den Text speist, handelt es sich um eine besonders im deutschen und romanischen Sprachraum des 16. und 17. Jahrhundert beliebte parodistische Dichtung, in der Morphologie und Syntax einer gesellschaftlich hoch angesehenen Sprache wie Latein auf den Wortschatz einer lokal gesprochenen Sprache angewandt werden. Der Begriff ‘nuttelverse’ stammt von Johann Fischart, einem der bekanntesten deutschen Vertreter dieser Dichtung. Solch eine parodistische Verballhornung des der sozialer Distinktion dienenden Latein durch eine verunreinigende Vermischung mit Alltagssprache wäre vermutlich ganz im Sinne Oswald de Andrades, der bereits in seinem Manifest der Pau-Brasil-Dichtung die “studierten Schwätzer” als eines der aus Europa importierten Verhängnisse benennt.10 Diesen spielerischen, kreativen Umgang mit Sprache, der sich zwar nicht genau in dieser Form, wohl aber in der überbordenden Vielzahl von Wortschöpfungen sowie in der Verschlingung verschiedener Sprachen miteinander und der Sprache von und mit sich selbst auch im vorliegenden Text findet, gilt es in der Übersetzung beizubehalten oder vielmehr wiederherzustellen.
Übersetzen/Transkreieren/Verdauen
Interessanterweise beinhaltet cadavrescrito selbst eine Miniatur einer Übersetzungstheorie in einer direkten Ansprache an eine Übersetzerin: Diese soll sich beispielsweise nicht auf der Suche nach den besten Entsprechungen einzelner Begriffe verlieren, die sich, in ihrem kulturellen Kontext verhaftet, ohnehin nicht mitsamt diesem übertragen ließen. Worauf es ankommt, ist der ‘Sprachfaden’, denn den gibt es, obwohl er zunächst vielleicht ‘entwirrt’ und ‘zerteilt’ werden muss. Entwirren soll man ihn aber nicht, um ihn dann ordentlich aufgerollt oder säuberlich in seine Bestandteile zerteilt in den Schrank zu legen. Vielmehr muss er vom neuen Kontext verspeist und verdaut werden und dabei, nun einverleibt, diesen verändern. Das ist das Schöpferische der Übersetzung als Transkreation, wie de Campos sie denkt: Das Eigene wandelt sich in der Aufnahme des Anderen.
Für de Campos beginnt Übersetzung und gerade Übersetzung von poetischer Sprache immer in einer Unmöglichkeit. Das Poetische oder Ästhetische der Sprache lässt sich schlicht nicht übersetzen.11 Der Text muss daher zunächst einer Kritik im wörtlichen Sinne unterzogen werden: Es muss auseinandergenommen (zerteilt), untersucht (abgeschmeckt) und entschieden (verspeist) werden. Das, worauf es ankommt, muss sich dann in der Übersetzung als eine genuin neue Schöpfung materialisieren. Dem Original sollte dabei in dem Sinne treu geblieben werden, dass sich das “konkrete Antlitz der Sprache”, deren spezifische Materialität und Körperlichkeit wiederfindet.12
Ob uns das als Übersetzerinnen von cadavrescrito gelungen ist, bleibt fraglich. In jedem Fall haben wir vieles verschlungen und uns einverleibt, haben Wörter seziert, verdaut und neue in einer anderen Sprache kreiert. Ob wir nun mit unserem Versuch in dem anderen, dem deutschen Sprachhafen einschiffen? Ob wir an unser Ziel gelangt sind? Ebenfalls fraglich. Es gibt keine eindeutige Antwort darauf. Die fremden Federn sind zu unseren geworden, aber das ständige Umkleiden hat sie, hat uns verändert. Am Hafen eingetroffen, sprechen wir kein Deutsch. Die Zielsprache hat sich mit der Reise verändert. Sie ist zu einer anderen geworden.