Village Literature und Ancient Properties
Eine Wiederbegegnung mit Toni Morrisons Tar Baby
Toni Morrisons vierter Roman, Tar Baby erschien 1981. Ein Jahr später war die erste deutsche Übersetzung mit dem Titel Teerbaby auf dem Buchmarkt. Dass der Rowohlt Verlag sich nun entschlossen hat, die mehr als vier Jahrzehnte alte deutsche Ausgabe überarbeiten zu lassen, ist nicht nur hinsichtlich sprachlicher Entwicklungen im Deutschen eine begrüßenswerte Entscheidung, sondern auch im Hinblick auf aktuelle Diskurse über Übersetzungstheorien, sensiblen Sprachgebrauch, Tücken und Grenzen literarischer Übertragungen und Kulturtransfer versus Cultural Appropriation. Ich habe sofort gerne zugesagt, als der Verlag mich bat, die Überarbeitung zu übernehmen und das Vorwort Toni Morrisons zum Originaltext, das den ersten Ausgaben und somit auch der deutschen Version nicht vorangestellt war, zu übersetzen. Dieses Vorwort hat meine erste, fast dreißig Jahre zurückliegende Interpretation dieses Romans bestätigt, in der es heißt:
Tar Baby is based on the African myth of the tar lady, the African American trickster tale of Brer Rabbit and Brer Fox and his tar doll, West African dilemma and orphan tales, myths and countermyths of riders of the air.
(Tar Baby basiert auf dem afrikanischen Mythos der Teerfrau, dem afroamerikanischen Trickster Tale von Brer Rabbit, Brer Fox und der Teerpuppe, westafrikanischen Dilemma- und Waisengeschichten, Mythen und Gegenmythen von Reitern der Lüfte.)1
Durch Morrisons Vorwort wurde mir einmal mehr deutlich, dass ein Verständnis des Romans ohne Kenntnis des Tar Baby Folktales und seiner historischen und kulturellen Hintergründe nur oberflächlich bleiben kann und somit auch die Gefahr birgt, kulturelle und sprachliche Übertragungen in falsche Richtungen zu lenken.
Das Tar Baby Tale hat seinen Ursprung in afrikanischen Trickster Tales und existiert in den Schwarzen Communitys der Amerikas in zahlreichen Varianten. Das Thema in all diesen Geschichten ist die ‚List der Schwächeren‘. In den USA wurde daraus die Erzählung von Brer Rabbit und Brer Fox (oder Bruh Rabbit and Bruh Wolf). In vielen Versionen ist der Fuchs ein weißer Farmer, der eine mit Teer beschmierte Puppe aufstellt, die dem entlaufenen Kaninchen, das er fangen will, gleicht. An diesem Tar Baby hängen geblieben, beteuert der Gefangene, seine schlimmste Bestrafung wäre es, in den Graben geworfen zu werfen. Nachdem der Farmer diese Strafe vollzieht, ist Brer Rabbit frei und läuft weg, „to the place where my mammy born me, in the briar patch“.2
Brer Rabbit und Tar Baby. Illustration aus der 1895 Version von Joel Chandler Harris' Uncle Remus: His Songs and His Sayings, Illustrationen von A.B. Frost.
In Toni Morrisons Roman ist der weiße Farmer der pensionierter US-amerikanische Bonbonfabrikant Valerian Street, der sich eine Villa nach europäischem Muster auf der fiktiven Karibikinsel Isle des Chevaliers3 unweit Dominikas erbaut hat. Son, ein Schwarzer Seemann auf der Flucht vor Strafverfolgung und vor sich selbst gleicht der allegorischen Figur Brer Rabbit, und Jadine, von Valerian geförderte light-skinned Sorbonne-Absolventin verkörpert das Tar Baby.4 Das Zusammentreffen dieser gegensätzlichen Charaktere in dem tropischen Klima einer Insel, die viele Geheimnisse birgt, fördert mehr als die Widersprüche von Gender, Race und Class zutage. Auf dem Hintergrund der modernen Version einer uralten Geschichte behandelt der Roman die Auswirkungen des Kolonialismus und Fragen von Identität und Authentizität in der modernen Welt.
In ihrem Vorwort, dessen Übersetzung seine eigenen Tücken barg, verdeutlicht Toni Morrison, dass sie von Kindheit an mit dem Tar Baby Tale vertraut war, dass es Teil dessen ist, was sie village literature5 nennt und wie sie dieses Folk Tale beim Schreiben des Romans inspiriert hat:
It was the image of tar, however, artfully shaped, black, disturbing, threatening yet inviting, that led me to African masks: ancient, alive, and breathing, their features exaggerated. Their power mysterious. A blatant sculpture sitting at the hert of the folktale became the bones of the narrative. All of the characters are themselves masks. And like African masks, the novel merged the contemporary, lore and reality.6
Allerdings war es das Bild des Teers, kunstvoll geformt, schwarz, verstörend und doch einladend, das mich zu afrikanischen Masken hinführte: uralt, lebendig und atmend, mit überbetonten Gesichtszügen und einer geheimnisvollen Macht. Eine schamlose Skulptur, die im Herzen des Folktales sitzt, wurde zum Kern der Erzählung. Alle Charaktere sind selbst Masken. Und wie afrikanische Masken verbindet der Roman das Ursprüngliche mit der Gegenwart, die Überlieferung mit der Realität.7
Mythen, Realität und Untranslateability
Es hätte des in so vieler Hinsicht erhellenden Vorworts nicht bedurft, um mir klarzumachen, dass der erste Schritt der Aktualisierung der deutschen Ausgabe der Titel war. Doch es hat mich darin bestärkt, dass meine Bedingung zur Annahme des Auftrags die Beibehaltung des Originaltitels war. Es gibt im Deutschen kein „Teerbaby“ Tale, und deutschsprachige Leser·innen stellen sich unter „Teerbaby“ bestenfalls ein Schwarzes Baby vor oder – wenn sie die ersten Verlagsankündigungen und Rezensionen gelesen haben − eine ‚exotische‘ Liebesgeschichte auf einer ‚paradiesischen‘ Insel. Solche Missverständnisse zeigen sich auch in frühen deutschen Besprechungen des Romans. Ich war daher angenehm überrascht, dass ich mit meinem Vorschlag, es bei dem Originaltitel zu belassen, beim Lektorat des Verlags offene Türen einrannte. Zu der Überarbeitung selbst gab es keine Vorgaben, und nachdem ich den deutschen Text an heutige sprachliche Normen angepasst und von veralteten Begriffen entstaubt hatte, wendete ich mich zunächst der wiederholten Lektüre des Originals zu und tauche erneut in die faszinierende moderne Version des Tar Baby Tales ein, von der Morrison in ihrem Vorwort schreibt, dass die Erzählung die afroamerikanische Erfahrung und ihre Mythen und Legenden mit der Realität unserer Gegenwart verbindet. Hier äußern sich die Schwierigkeiten eines Kulturtransfers durch literarische Übersetzungen, denn die Vergangenheit und Gegenwart, die Mythen und die Realität, von denen Morrison spricht, sind andere als die, die einem deutschsprachigen Lesepublikum vertraut sind. Dies hatte für mich die Untranslateability bestimmter Begriffe zu Folge. Deshalb habe ich mich mit dem Verlag darauf geeinigt, einige solcher Ausdrücke im Original stehen zu lassen. Dies betrifft zunächst die Bezeichnung Negro, die eine völlig andere Geschichte und Konnotation als das pejorative deutsche N-Wort hat. So bezeichnet sich Jadines Onkel Sidney, der für Valerian Street als Butler arbeitet, als „Philadelphia Negro“. Die alte Übersetzung benutzt hier das deutsche N-Wort und berücksichtigt dabei auch nicht, dass Sidney sich mit seiner Selbstbezeichnung auf den Titel eines Buches bezieht. Ich habe aber Negro auch an anderen Stellen im Original belassen, ebenso wie Race und Begriffe wie Folk Tale, the Yella, the swamp women und the swamp nigger. Es gibt dafür im Deutschen keine Entsprechung.8
Toni Morrison: Tar Baby. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Uta Goridis. Sprachlich überarbeitet und aktualisiert von Marion Kraft, Rowohlt 2023.
Gern hätte ich auch die Schlusszeilen des Romans im Original übernommen. Nachdem Jadine, the Yella, ihn in New York verlassen hat, kehrt Son auf der Suche nach ihr nach Dominika zurück. Dort rudert ihn Thérèse, eine einheimische alte blinde Seherin zur Isle des Chevaliers, doch an ein entlegenes Ufer. Sie verlässt ihn mit den Worten: „Forget her. There is nothing in her parts for you. She has forgotten her ancient properties“.9
Ihren Rat befolgend rennt er in die Wälder, wo er sich mit den blinden Reitern verbündet – Lickety-split. Lickety-split. Looking neither to the left nor to the right. Lickety-split. Lickety-split. Lickety-lickety-lickety-split. Ich liebe diese Lautmalerei. Beim „Lickety-lickety-lickety” höre ich die Läufe des fliehenden Kaninchens auf dem Waldboden hämmern – eine weitere Anspielung auf das Tar Baby Tale −, während split sowohl die Befreiung im ursprünglichen Sinn als auch die Trennung in der modernen Version der Geschichte signalisiert. Ich wollte das gerne übernehmen, doch hier ist mir das Lektorat nicht gefolgt mit der Begründung, es könnte ein deutsches Lesepublikum überfordern. Das wirft für mich die Frage auf, ob wir diese – imaginierten – Leser·innen nicht allzu oft unterschätzen und in Versuchen die Übersetzung möglichst ‚muttersprachlich‘ zu präsentieren, Gefahr laufen, Intentionen des Originals zu ignorieren. Im konkreten Fall haben die onomatopoetischen Schlusszeilen des Romans einen unmittelbaren Bezug zum Tar Baby Tale. So schreibt Toni Morrison in ihrem Vorwort über ihre Auseinandersetzung mit dem Tar Baby Tale ihrer Kindheit:
When I read, I listen. When I write, I listen – for silence, inflection, rhythm, rest. […]. I need to use everything – sound, image, performance – to get at the full meaning of the story [...].10
Wenn ich lese, höre ich zu. Wenn ich schreibe, höre ich – Schweigen, Tonfall, Rhythmus, Pausen. […] Ich muss alles benutzen – Ton, Bild, Performance – um die ganze Bedeutung der Geschichte zu erfassen.11
Deshalb hätte ich den Ton, das Bild, die Performance, die in diesen Schlusszeilen liegt, gerne erhalten. Stattdessen einige ich mich mit dem Verlagslektorat nach langen Überlegungen auf „Hopp-hopp-und-weg. Hopp-hopp-und-weg“. Glücklich bin ich damit nicht. Halte es aber immer noch für besser als das „Holterdiepolter“ in der ursprünglichen Übersetzung, in dem sich einmal mehr das Bemühen zeigt, den ‚fremden‘ Text ‚einzudeutschen‘.
Down Home und das afroamerikanische Englisch
Ein weiteres Problem der Übertragbarkeit bei dieser Übersetzungsbearbeitung war der Gebrauch des Black Vernacular12 an einigen Stellen im Original. In der ursprünglichen Übersetzung werden solche Passagen ins Hochdeutsche übertragen. Diesem Vorgehen bin ich gefolgt, obwohl dadurch die Bedeutung der verschiedenen Sprachcodes, die die Personen in Tar Baby navigieren, verloren geht. Ich habe deshalb diese Dialoge etwas umgangssprachlicher formuliert, um die Gemeinsamkeiten und die Vertrautheit der so kommunizierenden Figuren nachvollziehbarer zu machen. Doch auch dies ist ein Hilfskonstrukt. Denn abgesehen von Dialekten und Soziolekten ist – im Gegensatz zu den zahlreichen Varianten des Englischen – die deutsche Umgangssprache vergleichsweise homogen. Übertragungen von Black English mit all seinen semantischen und syntaktischen Bedeutungen und Regeln müssen auch hier zwangsläufig an ihre Grenzen stoßen. Keinesfalls kann – wie in frühen Übersetzungen afroamerikanischer Literatur oft der Fall – die Lösung in einer Übertragung in deutsche, regionale oder stigmatisierte Dialekte liegen. Zurecht weist Annika Kathrin Rosbach darauf hin, dass dabei die Erfahrungswelt afroamerikanischer Menschen zwecks Annäherung an das Fremde universalisiert wird und der Eindruck entsteht, als könnte diese in jedem beliebigen Kontext übertragbar und nachvollziehbar werden.13
Eine solche Assimilation, nach der sich eine Übersetzung wie ein muttersprachlicher Text lesen sollte, war vor vierzig Jahren, als die erste deutsche Übersetzung von Tar Baby erschien und noch lange Zeit danach die vorherrschende Meinung in deutschen Übersetzungstheorien. Dass diese Herangehensweise nicht nur Charakterisierungen im Original verfälscht, sondern auch zu unpassenden Assoziationen führen kann, zeigt folgende Stelle aus dem Roman:
Nach ihrer Flucht aus der künstlichen und absurden Welt der kolonisierten Karibikinsel besuchen Jadine und Son seine Verwandten in einer ‚rückständigen‘ Kleinstadt in Florida. Jadine, die keine gemeinsame Sprache mehr mit den Menschen dort hat, versucht vergeblich, mit ihnen zu reden wie „down home“. Dass in der ersten deutschen Übersetzung aus „down home“ „volksnah“ wird, zeugt von dem Bemühen, den ‚fremden‘ Text möglichst nahe an die eigene Sprache und Kultur heranzuholen. Wobei je nach Kontext auch schon im Deutschen der Begriff „Volk“ problematisch sein kann. „Down home“, die afroamerikanische Erfahrung des Südens, wird somit uminterpretiert und angepasst. In meiner Überarbeitung habe ich das, was mit „down home“ gemeint ist, umschrieben und so knapp wie möglich gehalten: „[…] und versuchte, so wie die Schwarzen hier unten zu reden“.
Es sind vor allem die Schwarzen Menschen „down home“, denen Morrison in ihrem Werk eine Stimme verleiht. Mir sind bei dieser Wiederbegegnung mit Tar Baby sowohl die Schwierigkeiten eines kulturellen Transfers ohne die Fallstricke der Appropriation erneut bewusst geworden als auch die Grenzen einer literarischen Übersetzung, die auf die Assimilation des Originals bedacht ist. Von daher war es konsequent, entweder einige Begriffe neu zu interpretieren und sie zu umschreiben oder sie im Original zu belassen. Genauso wenig wie es eine ‚reine‘ Kultur gibt − auch die afroamerikanische ist eine im ständigen Wandel begriffene hybride, was auch in Tar Baby deutlich wird, − gibt es keine ‚reine‘ Übersetzung. Morrison verschmilzt in Tar Baby Vergangenheit und Gegenwart, Mythos und Realität und verschiedene Kulturen in ihrer „village literature for the tribe – for my people – in a voice we can all understand, together, just us, and if anyone else wants to follow, they can”.14 Ich bin bei dieser Wiederbegegnung ihrer Stimme zum wiederholten Mal gerne gefolgt.