Am Beispiel der Worte
Über das Übersetzen von Infinite Jest ins Farsi
Trauer schleicht sich wie Erleichterung an einen heran, unangekündigt und unerwartet. Da war ich nun, befand mich in einem Büro, umgeben von Körpern und Köpfen, und unterhielt mich mit einem Verleger über die Bedeutung einer Übersetzung von Infinite Jest ins Farsi. Ich faselte von der Bedeutung „ernsthafter“ Literatur in unserer Zeit und über das Bedürfnis nach einer Literatur, die in all dem Dauerrauschen der Branche Wahrheit vermittelt. Hinter dem Deckmantel dieser Argumente versteckte ich aber nur den Wunsch, den Verlust meines langjährigen literarischen Mentors Kouresh Asadi zu betrauern, der sich sechs Monate zuvor im Juli 2017 das Leben genommen hatte.
Als ich Kouresh ‒ oder „Mr Asadi“, wie ich ihn über zehn Jahre lang nannte ‒ kennenlernte, war ich ein Studienanfänger, entschlossen, meiner Leidenschaft für Literatur im brutalen Getümmel der Hauptstadt nachzugehen, mich als Fremder auf den Straßen und vor den Gesichtern Teherans zu behaupten. Nachdem Koureshs Buch mit lauter Zustimmung aufgenommen worden war, hatte er sich vier Jahre lang aus dem iranischen Literaturbetrieb zurückgezogen, um sich ganz dem Schreiben eines Romans zu widmen, der dann neun Jahre lang unter Publikationsverbot blieb. Wir trafen uns in einem inoffiziellen Workshop, der in der Wohnung eines seiner Studenten stattfand und dessen wenige Teilnehmer·innen sich entweder an Koureshs Glanzzeit erinnerten oder wie ich einen Ort suchten, an dem sie jede Woche ein paar Stunden lang Zuflucht finden konnten. Dieser bescheidene Workshop war jahrelang mein Leuchtturm in einem ansonsten trostlosen Studium, das mich auf eine Karriere als gescheiterter Ingenieur festzulegen schien.
Kouresh war dabei in der geschäftigen Hauptstadt des Iran und ihrem unterdrückten Literaturbetrieb nie wirklich zu Hause gewesen. Nachdem er dem Grauen des Ersten Golfkriegs der Achtziger entronnen war, konnte er nie wieder heimisch werden und verharrte in existentieller Abgeschiedenheit. „Wir wissen nicht, was sich in uns tut“, schrieb er einmal. „Wir gehen aneinander vorbei wie zwei Menschen aus verschiedenen Ländern. Die Köpfe gesenkt, verirrt und verwirrt. Gleichzeitig ermöglicht die Literatur, uns Situationen zu stellen, denen wir normalerweise aus dem Weg gehen würden. Sie kann uns erzählen, worum es bei uns, bei anderen und bei Feinden wirklich geht. Das Wunder der Literatur liegt in der Vorstellung dessen, was erst noch geschehen wird.“
Wenn nicht einmal Literatur mehr ein Refugium war, wenn selbst sie daran scheiterte, empathischen Zugang zu anderen Psychen zu verschaffen und so Erlösung in Aussicht zu stellen, was dann? Worum geht es in der Literatur? Darum, ein verdammtes menschliches Wesen zu sein?
Für ihn war Literatur das einzige Refugium, in dem seine kriegsgeschundene Seele Schutz finden konnte, auch wenn es sich um eine ferne und fast unzugängliche Insel handelte. Die Literatur war die einzige definitive Konstante in seinem Leben. Sein scharfes Auge entdeckte, was er dann „ein großes Buch“ nannte, eine Literatur, die ganz aus sich selbst heraus Wert hatte, eigenständige Erzählungen, die „die Fähigkeit des Menschen erweitern, seinen Mitmenschen zu verstehen und Mitgefühl für andere zu entwickeln“. Als ich ihm das erste Mal aus den Erzählungen von Wallace vorlas ‒ „Für immer ganz oben“ allen voran ‒, horchte er auf: „Der Mann ist einsame Spitze“, sagte er und steckte sich die nächste Zigarette an, „wie heißt der noch mal?“
Als ein Schriftsteller, der der Literatur mit höchster Ehrerbietung begegnete, kontrollierte Kouresh, Wallace darin sehr ähnlich, peinlich genau jede Facette seiner Texte, wählte Wörter mit der Sensibilität eines Lyrikers und polierte alles, bis er überzeugt war, eine Geschichte geschrieben zu haben, die niemals zerbröseln würde. Er scheute sich nie vor der geheimnisvollen und absurden Beschaffenheit des Lebens.
Meine gesamte Wahrnehmung dieses Menschen änderte sich, als ich von seinem Tod erfuhr. Nach seinem unvermittelten Suizid mussten wir, die ihm nahegestanden hatten, uns mit einem noch größeren Geheimnis auseinandersetzen. Wenn nicht einmal Literatur mehr ein Refugium war, wenn selbst sie daran scheiterte, empathischen Zugang zu anderen Psychen zu verschaffen und so Erlösung in Aussicht zu stellen, was dann? Worum geht es in der Literatur? Darum, ein verdammtes menschliches Wesen zu sein?
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In den Monaten nach Koureshs Tod musste ich immer wieder an zwei Sätze aus Infinite Jest denken: „Die Wahrheit macht dich frei. Aber vorher macht sie dich fertig.“ Ich dachte über die Wahrheit nach, die seine Entscheidung eingekreist hatte, starrte mit leerem Blick durchs Fenster auf die schwach beleuchteten, schlummernden Straßen von Teheran, und auf der Scheibe zeichnete sich schwach mein Spiegelbild ab. Als ich mich für die Übersetzung von Infinite Jest einsetzte, hoffte ich inständig, dass mein Glaube an die Literatur nicht vergebens gewesen war. Was war, wenn in diesem Fall Worte Handlungen übertönen konnten?
Die Wahrheit ist: Man braucht keinen Glauben, um ein Buch zu übersetzen. Man braucht Einsatz. Man muss sich so sorgfältig wie möglich ausrüsten, um mit dem Text zu ringen ‒ allenfalls zu tanzen ‒ und sich für seine unzähligen Herausforderungen Lösungen auszudenken. Ironischerweise ähnelt der Glaubensaspekt ein bisschen dem Konzept des Höheren Wesens bei den Anonymen Alkoholikern. Man muss nicht ernsthaft daran glauben, es beim Namen anrufen können oder vor ihm knien wollen, man muss das alles nur pro forma durchexerzieren und kann sich dabei sogar weismachen, man würde nur nach einer Socke unter dem Bett tasten. Wenn nicht, findet man sich plötzlich wieder am Rand des Abgrunds ‒ und muss sich entscheiden, ob man springt oder demütig zugibt, dass es läuft, wenn man es zum Laufen bringt. Anders gesagt, braucht man eben Einsatz.
Und ich setzte mich ein. Infinite Jest war nicht meine erste Wallace-Übersetzung, also wusste ich, welch ein linguistisches Labyrinth mich erwartete. Ich wusste, dass ich es durchexerzieren musste, die Routine entwickeln musste, vor meinem Laptop mit zwei offenen Bildschirmfenstern zu sitzen: das einschüchternde englische Original rechts und das provisorische Farsi links. Ich hielt mich lieber nicht bei den Schwierigkeiten auf, die ich im Lauf der Arbeit zu meistern haben würde, sondern versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was an einem Tag zu schaffen war. Hätte man eine Kamera aufgebaut und meine Tage aufgezeichnet, hätte man einen Mann erlebt, der offenkundig frustriert vor einem Laptop saß, begleitet vom Soundtrack einer Playlist, die das Verstreichen der Zeit kenntlich machte. Von den nötigen Tee- oder Kaffeepausen abgesehen, bewegte ich mich kaum. Ohne dass der Zuschauer es mitbekommen hätte, schlug dann plötzlich die Pandemie zu, sperrte die Welt in Angst und Vereinzelung ein, und der Mann saß da immer noch auf seinem Stuhl. Was die Kamera nicht eingefangen hätte: Der Mann auf dem Stuhl hatte das Gefühl, sich auf einen seltsam nüchternen und reflektierten Tanz mit Wörtern eingelassen zu haben ‒ das unablässige Bemühen, Tag für Tag neue, bislang in ihm schlummernde sprachliche Fähigkeiten zu Tage zu fördern. Hinter den beiden Bildschirmfenstern war ein weiteres Fenster: mein Twitter-Account, über den ich mit Einzelpersonen, Expert·innen und Wallace-Mitleser·innen vernetzt war. Hier enthüllte ich meine tägliche Routine, schimpfte auf das Projekt und teilte die flüchtigen Augenblicke der Euphorie. Diese wohlwollenden Menschen verfolgten nicht nur mein Projekt, sondern reichten mir auch die Hände, wenn ich im Treibsand von Wallaces eleganten Komplexitäten zu versinken drohte.
Als ich an einem dieser langen stumpfen Quarantänetage knietief im unendlichen Spaß der Übersetzung des Buchs steckte, bekam ich auf Twitter eine Nachricht von Igor Cvijanovic. Er sagte, er säße an der Übersetzung von Infinite Jest ins Serbische. Bei unserem Austausch wurde schnell klar, dass der Roman uns oft mit denselben Fragen konfrontierte: Wendungen, deren Bedeutungen sich uns nicht erschlossen, Wörter, die sich kryptisch anfühlten. Igor und Can Kantarcı, der türkische Übersetzer, kontaktierten Übersetzerkollegen, und bald darauf bekam ich eine Mail mit der Betreffzeile „Infinite Jest around the World“ von einem der Übersetzerveteranen, Caetano W. Galindo aus Brasilien. Er fragte, ob ich Lust hätte, einer informellen Gruppe ehemaliger und aktueller Wallace-Übersetzer beizutreten.
Das war der Beginn unserer Mailingliste. Hier trafen sich die Übersetzer von Infinite Jest aus aller Welt und halfen sich, damit sich die Worte herumsprachen. Den Auftakt zu Diskussionen bildeten oft scheinbar überschaubare Fragen ‒ „Dove-Probepackung“: Eiscreme oder Seife? ‒, die in ausführliche Diskussionen über Wallace, Sprache und Übersetzen ausufern konnten. Würde die besagte Kamera immer noch laufen, dann würde sie das unverkennbare Grinsen erwischen, mit dem ich jede Mail las. DIE WAHRHEIT, die wir in unserer kleinen Gemeinschaft von Wallace-Übersetzern suchten, drehte sich nicht um das, was der verstorbene Autor getan hatte, sondern um seine Wörter, diese winzigen, leicht zu übersehenden Einzelheiten, über die Leser·innen hinweglesen können, was wir als Übersetzer uns nicht erlauben konnten. In diesen klitzekleinen Bestandteilen, analysiert, als stünde das Schicksal der Welt auf dem Spiel, entdeckten wir nicht DIE WAHRHEIT, wohl aber zersplitterte und in der jeweiligen Sprache gespiegelte Wahrheiten. Und dann stellte sich jedem von uns die Frage: Was spiegelt man dem Leser?
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„Das Buch ist 1.079 Seiten lang, und es gibt nicht einen einzigen müßigen Satz“, schrieb Dave Eggers 2006 im Vorwort zur amerikanischen Jubiläumsausgabe. Jeder Satz, jedes verzwickte Wort und jede grammatische Verdrillung ist ein kleines Geschenk, das der Leser·in Zuwendung, um nicht zu sagen Liebe entgegenbringt. „Der entscheidende Unterschied zwischen guter und mittelprächtiger Kunst“, sagte Wallace in einem frühen Interview, „liegt offenbar irgendwo im Herzkern der Kunst, dem Vorhaben des Bewusstseins hinter dem Text. Das hat etwas mit Liebe zu tun. Mit dem Verfügen über die Disziplin, aus dem Teil des eigenen Selbsts heraus zu sprechen, der lieben kann, und nicht dem, der nur geliebt werden will.“
Diese Liebe liegt nicht nur im Text oder im Autor; sie entfaltet sich im Raum zwischen dem Leser (oder Übersetzer) und dem Roman selbst. Wenn der literarische Text „uns befähigt, uns imaginativ mit dem Schmerz einer Figur zu identifizieren“, wie Wallace weiter sagte, „so dass wir uns auch leichter vorstellen können, dass andere sich mit unserem identifizieren“, dann wird der Übersetzer zu einem unsichtbaren Tunnelbauer, der einen Gang erschafft, durch den das zuvor Unzugängliche erreicht werden kann.
An dieser Stelle kommen jene endlosen Diskussionen um Ästhetik und Detailfragen zum Tragen. Weil beim Übersetzen schlussendlich das eine dem anderen geopfert wird, handelt es sich immer um einen Prozess von Geben und Nehmen. Nicht jede Sprache beschert einem so viel Flexibilität wie das Englische, und ganz bestimmt spielt nicht jeder Wortmetz so virtuos mit den Satzstrukturen wie Wallace. Das heißt, man muss die Ausdrucksmöglichkeiten der eigenen Sprache erweitern. Vielleicht entscheidet man sich, eine grammatische Macke mit einem Seufzer dranzugeben, um den Ton der Passage zu erhalten. Vielleicht entscheidet man sich, einen Satz ein bisschen aufzulockern, um seinen Flow zu erhalten, oder orientiert sich umgekehrt an der Dichte des Texts, auch wenn man damit den Verlust des spielerischen Elements riskiert. Vielleicht hat man das Gefühl, eine Anspielung erläutern zu müssen, oder man überlässt es der Leserin, sie zu erkennen oder eben nicht. Patentlösungen gibt es nicht.
Natürlich kann man sich des Langen und Breiten darüber unterhalten, wie und wofür man sich entscheidet, und letztlich haben wir in unserem Mailwechsel auch genau das gemacht. Auf der Metaebene gilt es jedoch zu entscheiden, was diese Liebe am besten vermittelt, es gilt, genauer gesagt, einen Raum zu erschaffen, in dem sich diese Liebe entfalten kann. Man muss aus dem Teil seiner selbst heraus übersetzen, der den Text liebt, der beide Sprachen goutiert und der zu dem Bewusstsein hinter dem Text, das überhaupt erst dafür gesorgt hat, dass man sich nicht mehr so allein fühlt, eine Beziehung aufbauen kann. Diese Liebe hatte ich nach Koureshs Tod gewissermaßen absichtlich verloren, nur um sie in dieser neuentdeckten Gemeinschaft wiederzufinden. Indem ich mich dem namenlosen Höheren Wesen in Wallace’s Worten ergeben hatte, konnte ich mich im Übersetzungsprozess an Kouresh als ein verdammtes menschliches Wesen erinnern und nicht nur als ein Konzept oder das Symbol eines gescheiterten Begriffs. Er stand mir lebhaft vor Augen, brodelte aus den Tiefen herauf: Er hatte faktisch immer älter ausgesehen, als er war, mit seinem flaumigen grauen Haar, dem knochigen Gesicht, dem schiefen Grinsen, das immer auftauchte, wenn ihn jemand lobte, und der Zigarette, die ihm unweigerlich im nächsten Moment aus dem Mund zu fallen drohte. Ich erinnerte mich an sein ruhiges Auftreten, seine geschlossenen Augen, wenn er scheinbar gedankenverloren, in Wahrheit aber hochkonzentriert unseren Texten lauschte, denn plötzlich riss er sie weit auf, wenn eine wirklich großartige Geschichte ihr Ende erreichte. Nur in diesen flüchtigen Momenten blitzten und funkelten seine Augen. Und meine, wenn sich unsere Blicke trafen.
Weil beim Übersetzen schlussendlich das eine dem anderen geopfert wird, handelt es sich immer um einen Prozess von Geben und Nehmen.
Wenn ich diese Augenblicke echter Nähe wiederentdeckte, spürte ich die Erleichterung, auch einen vergessenen Glauben wiederzuentdecken. Das Übersetzen war kein Bergsteigen mehr, sondern eine alpine Wandertour. Das Höhere Wesen führt einen sanft vom Abgrund fort und sei es nur vorübergehend. Man stützt sich auf die Struktur eines Opus maximum, das niemals zerbröseln wird, auch wenn es das Geschenk eines Autors ist, dem, wie Wallaces Schwester Amy sagte, „irgendwann die Hoffnung ausging, morgen könne ein bisschen besser werden“. Aber die Worte leben weiter. Sie erweitern unsere Fähigkeiten zu verstehen ‒ oder zumindest unseren Frieden damit zu machen ‒, wie andere Menschen lebten, fühlten, litten und manchmal entschieden, nicht mehr zu leben. Es wird immer eine neue Leserin geben, eine neue Sprache und eine neue Übersetzerin, also auch eine ständig wachsende Gemeinschaft von Lesenden, die auf der Suche nach Verbindungen mit Bewusstseinen jenseits ihres eigenen sind. Sie werden sämtliche Feinheiten berücksichtigen, enge Beziehungen zu anderen Menschen eingehen und deren tiefgehende Traurigkeit nachempfinden. Vielleicht gelangen sie zu der Erkenntnis, dass es beim Lesen eines wirklich großen Werks der Literatur ‒ oder bei seinem Übersetzen, was das angeht ‒ um Verbindung und nicht um Vereinzelung geht. Das ist der Grund, warum wir übersetzen.
Dieser Essay wurde in seiner englischsprachigen Originalversion ursprünglich auf Literary Hub veröffentlicht.