TALKS TUPI OR NOT TUPI PUTTI OR NOT PUTTI
de en

PUTTI OR NOT PUTTI

Einige Informationen zum Kannibalismusmotiv im Horrorfilm sowie zu den Ernährungsgewohnheiten kriegerischer Putten

Den Anstoß, mich eingehender mit den Facetten des Kannibalismusmotiv im Horrorfilm zu beschäftigen, gab die Arbeit an einigen Gedichten, aus denen sich der schmale Band die Nacht der Hungerputten zusammensetzen sollte. Der Kannibalismus war unerwartet, gleichzeitig auf organische Weise im Text aufgetaucht, die Ergebnisse der daran anknüpfenden Beschäftigung überzeugten mich, die richtige Fährte zu verfolgen.

Sprachkörper. Brasilien, 16. Jahrhundert: In Como Era Gostoso O Meu Francês / How Tasty Was My Little Frenchman (1971) entkommt ein Franzose der Hinrichtung durch seine Landsleute, nur um in die Hände einer Gruppe von Portugiesen und Tupiniquim zu geraten, welche wenig später von einigen Tupinambá besiegt wird. Und da dieser Stamm mit den Franzosen kooperiert, versucht der mehrfach Gefangene seine Nationalität mit nichts anderem als einem Gedicht zu belegen. Das muss schief gehen. Er wird als Portugiese fehlgedeutet und deshalb rituell erschlagen und verzehrt, allerdings nicht, bevor er ein Weilchen mit den Tupinambá gelebt, an ihrer Seite gekämpft und ihre Sprache gesprochen hat. Wenn er stirbt, werde sie unglücklich sein, sagt die Geliebte, außerdem freut sie sich auf die ihr bestimmte Körperpartie, den Hals. Trotzdem ein im Großen und Ganzen entgegenkommender Umgang mit der Nahrung, beileibe keine Selbstverständlichkeit. Beschäftigt sich wer mit der Anthropophagie, wird die Unüberschaubarkeit der vorhandenen Literatur, ob ethnologisch, psychologisch, ernährungs- oder kulturwissenschaftlich, früh ersichtlich, weshalb ich mich hier auf einen isolierten Aspekt konzentrieren will, den Horrorfilm. Wie zuvor im Schattenreich der Mythen und Legenden, so findet der moderne Kannibale im Horrorfilm seine angemessene Heimat, wird er der Klasse der Halbwesen zugeordnet. Aber auch in How Tasty Was My Little Frenchman, lose basierend auf den Berichten Hans Stadens und zumeist als schwarze Komödie klassifiziert, zeigen sich typische Charakteristika: Der Kampf mit der Zensur, in diesem Fall nicht wegen der Darstellung von Gewalt, sondern von unverfälschter Nacktheit, sowie die verwegene Handhabung von Fakt und Fiktion, die Verwendung zweifelhafter Quellen, das Fabulieren. Da der Begriff Kannibalismus selbst das Ergebnis von Mystifizierung, Missverständnissen, Falschaussagen darstellt, entsteht Spielraum.1 Vergleichbares gilt für weitere Begriffe dieses Bedeutungsfelds: von Herodots Volk der Androphagoi bis William Shakespeares „speak like an Anthropophaginian“ (Sir Falstaff and the Merry Wives of Windsor) – abwertende Alterisierung. Ansonsten werden die Begriffe Kannibalismus und Anthropophagie, trotz verschiedener definitorischer Abgrenzungsversuche, im Folgenden synonym verwendet, vielleicht willkürlich, wie seit eh und je. Dabei bleibt es bedeutsam, sich die Fremdenfeindlichkeit dieser Begriffe, die auf Abgrenzung, Entmenschlichung abzielen, zu vergegenwärtigen. Es wurden Hinweise darauf entdeckt, dass das Volk der Washoe die 1846/1847 in der Sierra Nevada eingeschneite Donner-Reisegruppe mit Nahrung versorgen wollte, jedoch beschossen wurde. Stattdessen nutzte die Gruppe das Fleisch ihrer Toten.

Zum Italiener. Wie die berühmtesten Putten, so stammen auch die berühmtesten Kannibalenfilme aus Italien, ballten sich historisch in den 1970/80ern. Das, was einem in der Fachliteratur regelmäßig als cannibal boom begegnet, begann mit Il Paese Del Sesso Selvaggio / Man From Deep River / Sacrifice! (1972) – der Originaltitel weist auf ein weiteres Verlangen hin – welcher sich schon mit den Texttafeln zu Beginn ein dokumentarisches Flair verleiht. „(…) Only the story is imaginary.“ Als Vorläufer sind die Mondo-Dokumentationen und ihr exotisierender, oft rassistischer Blick auf nicht-europäische Kulturen zu erwähnen. Im Kannibalenfilm dieser Zeit wird Wert auf ferne Drehorte und indigene Darsteller gelegt, wenn auch gelegentlich unter wilden Mähnen eine unverkennbare Zivilisationsfrisur auftaucht. Der Protagonist von Man From Deep River ist Fotojournalist, der mit seiner Kamera zusätzlich Objektivität behauptet. Er wird von einem Stamm eingefangen, diesmal in den Tropenwäldern Thailands, dann sukzessive eingebürgert. Kannibalen sind hier die anderen – wenn auch der Stamm selbst wenig zimperlich bei Regelverstößen agiert und die berüchtigten realen Tiertötungen einen Teil der Dschungelidylle bilden – und erst gegen Ende beißt der Feindesstamm zu. Beim Gegenschlag wird den Menschenfressern ihre Zunge abgeschnitten. Wie soll man so seinen Ernährungsstil erklären? Wie sagen: Es war ein Missverständnis! Der Fotojournalist kann sich einige Wörter der Stammessprache aneignen und einige mehr seiner Braut vermitteln. Interkultureller Austausch findet statt. Der Kannibale hingegen kommt kaum zu Wort, scheint kulturlos, insbesondere, wenn er sein Fleisch roh, gelegentlich noch lebendig, verschlingt. Ein Indiz für das Steinzeitliche. Und hat er den Mund voll, sieht er ein wenig wie eine Putte aus, oder? Der anthropophage Akt entwickelt sich in den Folgefilmen zum Herzstück der Veranstaltung und kommt im Horrorgenre an, adäquat, stellt dieses doch für viele eine ebenso kulturfreie Zone dar.2

Francisco de Goya, Saturno devorando a su hijo (Saturn verschlingt seinen Sohn, 1819-1823)

Die Verortung im Fiktiven korrespondiert zum einen mit der Tradition zahlloser kannibalischer Schöpfungsmythen und Märchen (das Bild, das neben Füsslis Nachtmahr am häufigsten als Deko im Horrorfilm auftaucht: Francisco Goyas Saturn), zum anderen findet ein Anschluss an den damals einsetzenden (populär)wissenschaftlichen Diskurs statt; 1979 erschien William Arens‘ The Man-Eating Myth: Anthropology & Anthropophagy und stellte Quellen, Methoden und Überzeugungen in Frage, wohl ein wenig zu umfänglich. Dennoch Beweggründe, mich bei der Recherche aufs Fiktive zu beschränken. Nach der erfolgreichen Integration des Fotojournalisten rückte 1980 eine ganze Filmcrew am Amazonas an. Bei Cannibal Holocaust handelt es sich um das verrufenste Produkt des italienischen Kannibalenfilmexports. Von Gerichtsverfahren ist die Rede, von dem Verdacht, der Regisseur Ruggero Deodato hätte sein Ensemble ermordet. Wieder verwischen Grenzen, im Einklang mit der Filmhandlung, nicht zuletzt moralische: Um den Erfolg ihrer Dokumentation sicherzustellen, inszenieren die Filmschaffenden in Cannibal Holocaust Massaker vor laufender Kamera, ihr Verzehr durch die Indigenen dient nicht der Verschmelzung, sondern der Vernichtung, dem Schutz der Gemeinschaft.

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte von www.youtube.com angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. TOLEDO hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Trailer für den Film Cannibal Holocaust (1980)

Weshalb sich der Anthropologieprofessor, der das Filmmaterial vor Ort sichern und diese Hintergründe aufdecken kann, letztlich fragt, wer hier die wahren Kannibalen sind, und erst recht nach seiner Beteiligung an einem Festmahl des Stamms. In Ultimo Mondo Cannibale / Last Cannibal World / Jungle Holocaust / The Last Survivor / Cannibal (1977), Regie: wieder Deodato, kommt es wieder zu einer Gefangenschaft. Die Kannibalen agieren kindlich, vergleichen ihre Genitalien mit denen des Fremden, versuchen, seine Armbanduhr zu essen. Nur eine gemeinsame Sprache kann nicht gefunden werden. Selbst ein Sachkundiger bezeichnet die ihre als unverständlich. Auf anderer Ebene findet Verständigung statt, denn in den letzten Minuten beißt auch der Held beim Nahkampf in ein Organ, eine Leber, würde ich sagen. Wenig später informiert ein Text über sein weiteres Leben (vier Monate Krankenhaus auf den Philippinen, jetzt Frau und Farm in Mexiko). Folgen für den Regisseur: Ein erneutes Gerichtsverfahren, diesmal nicht wegen Darsteller-, sondern Tiertötung. Der Bildwelt dieser Filme liegt das allgegenwärtige Fressen und Gefressen werden zugrunde, in Nahaufnahme: Schlangen, Affen, Fledermäuse, Riesenschildkröten, Krokodile, Piranhas, Ameisen, Menschen. Inhaltlich und formal neigen sie zum Repetitiven, Aufnahmen werden wiederverwendet, Sets und Darsteller.3

Auf Augenhöhe mit der Mundhöhle. Wie ins Gespräch kommen? Wie auf Augenhöhe? Denn der Blick auf den Kannibalen ist häufig der rassistische, kolonialistische, diente der Begriff dem Sklavenhändler zur Rationalisierung seines einträglichen Geschäfts. Auch in Cannibal Ferox (1981) müssen die Einheimischen zu exzessiver Grausamkeit greifen, um auf das Niveau der europäischen Besucher zu gelangen. Erst der Fressrausch kann es mit einer von Drogen und Zivilisationszynismus begünstigten Raserei aufnehmen. In Terreur Cannibale / Cannibal Terror (1980) wird ein Vergewaltiger an einen Baum gefesselt, man pfeift und schon kümmern sich die nahen Kannibalen als eine Art Gesundheitspolizei der Natur um die Beseitigung. Der im Horrorfilm geläufige Topos vom Eindringen des Monsters und seiner Zerstörung wird ein wenig verkehrt, durch das Verspeisen wird eine Gefahr gebannt. Hier findet keine ritualisierte Interaktion zwischen Kriegern statt, deren Ziel es wäre, sich erwünschte Attribute einzuverleiben. Wie es beispielsweise die beiden Models in The Neon Demon (2016) tun, wenn sie das erfolgreichere Model verschlingen; vielleicht ist es auch schlicht der Hunger. Gleichwie verhindert Anbetung die Augenhöhe, ob die des (waffen)technisch Überlegenen oder der weißen und blonden Schönheit wie in La Montagna Del Dio Cannibale / Slave Of The Cannibal God (1978) oder Mondo Cannibale / White Cannibal Queen / Cannibals (1980), obwohl die Schminke der Kannibalen beim Zubeißen abfärbt. Womöglich bietet der Autokannibalismus eine Lösung, sobald man sich ausreichend vom eigenen Körper entfremdet hat, um ihn als Objekt zu betrachten, als aufregendes Fremdfleisch (Dans Ma Peau / In My Skin, 2002, oder Eat, 2014).4 Im Horrorfilm wird der Mensch wieder zum Beutemenschen, die DNS wird sich noch erinnern können, es herrschen prähistorische Zustände, ein Bedeutungsverlust. „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“, schrieb Gottfried Benn (Der Arzt II) - oder: Meat Is Meat (Lo Strangolatore Di Vienna, 1971). Als Hans Staden (1999) ins Dorf der Tupinambá entführt wurde, muss er sich mit A Junesche been ermi vramme (Ich, Eure Essensspeise, komme), ankündigen. Gegessen wird er allerdings – historisch korrekt – nicht. Dass Menschenknochen eine ähnliche Bearbeitung wie die Tierknochen erfahren haben, stellt ein archäologisches Kriterium beim Kannibalismusnachweis dar. In The Texas Chain Saw Massacre (1974) finden Menschen ihren Platz am Haken und in der Gefriertruhe. Der technische Fortschritt führt zur Arbeitslosigkeit einer Familie von Schlachthausarbeitern, doch ihre Fertigkeiten verlangen nach weiterer Anwendung, eine Déformation professionnelle.

Poster für den Film The Texas Chainsaw Massacre (1974)

In The Texas Chainsaw Massacre 2 (1986) gewinnt die Familie längst Kochwettbewerbe – dank „prime meat“. Und meine persönliche Anekdote zu Leatherface: The Texas Chainsaw Massacre 3 (1990): Einer der Kannibalen, Viggo Mortensen, ist ebenfalls als Dichter tätig und hat mir nach der Lesung seinen neuen Band sowie die DVD signiert. In Das Deutsche Kettensägenmassaker (1990) schlägt der marktorientierte Westen zu. Tagline: „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“. „Bei den menschenfressern geht alles so einfach – krach schleif schneid brat schmalz! – und der liebe bauch ist lecker sonne…“, heißt es in Hans Carl Artmanns Der handkolorierte Menschenfresser. Hingegen kompliziert erscheint mir die Herstellung von „Farmer Vincent’s Meat“ in Motel Hell (1980): bis zum Hals eingegrabene, gemästete Gäste, durchtrennte Stimmbänder, hypnotische Lampen. Dem unwissentlichen Kannibalismus begegnen wir in diversen Mythen, so setzt beispielsweise Lykaon Zeus Menschenfleisch vor und wird dafür in einen Wolf verwandelt. Ein Echo findet dieser Vorgang in The Horror Of Dolores Roach (2023), wenn dem Sohn in einer Empanada das Fleisch des Vaters serviert wird. Bei Dolores Roach, deren Menschlichkeit gleichfalls auf dem Spiel steht, handelt es sich um eine Masseurin mit goldenen sowie tödlichen Händen, außerdem um eine Aktualisierung des Barbiers Sweeney Todd (erste Schilderung seiner vielverfilmten Mordserie in der Penny-Dreadful-Reihe The String of Pearls), dessen Komplizin Mrs. Lovett zeitgleich Erfolge mit „meat pies“ feiert, ganz so wie Dolores‘ Geliebter Luis mit seinen Empanadakreationen. Leichen beseitigen – das Notwendige mit dem Schmackhaften verbinden. Und die Kasse stimmt. Pragmatisch gehandelt wird ebenso in der Küche Hongkongs – in den berüchtigten CAT III-Filmen (Hinweis auf die dortige Freigaberegelung) wie Bat Sin Fan Dim: Yan Yuk Cha Siu Bau / The Untold Story (1993) oder Yi Boh Lai Beng Duk / Ebola Syndrome (1996) stellt der Kannibalismus nur eines von vielen Tabus dar, dessen Bruch routinemäßig abgearbeitet wird – oder in den um die Zutat Anthropophagie bereicherten Erotikdramen aus Singapur, wenn die Reste des Liebespaars in Siew Lup (2016) Seite an Seite an der Restaurantdecke hängen. In Blood Feast (1963), dem mutmaßlich ersten Splatterfilm (das oft verwendete Zitat des Regisseur Herschell Gordon Lewis: „I've often referred to Blood Feast as a Walt Whitman poem. It's no good, but it was the first of its type”), wird ein Ritual zu Ehren Ishtars vorbereitetet; hier eine ägyptische Göttin, sonst eine babylonische. „They take all the young girls and they cook them to satisfy their gods“, aber die Tischgesellschaft kann vor dem ahnungslosen Verzehr gerettet werden. Erst im gleichnamigen Remake (2016) gelingt ein Abendmahl mit Frau, Tochter und Ishtar. Erfolg auch in Ostatnia Wieczerza / Hellhole (2010): Die Zwangsfütterung mit Menschenfleisch führt den Auserwählten seiner Bestimmung als dämonischer Bote der Apokalypse zu. Der Hungerkannibalismus der Frauenfußballmannschaft Yellowjackets (2021) nach einem Flugzeugabsturz ist zunehmend mystisch grundiert. Die Atmosphäre der Wälder und die Halluzinationen (Visionen?) einer an Schizophrenie erkrankten Mitspielerin manifestieren sich in den Geboten einer Naturreligion – samt Jagdritualen. Als Kommentar auf den Fleischhandel im Rahmen von Datingdruck und -Apps ist Fresh (2022) lesbar, Frauen werden mit einem charmanten Arzt geködert, dann Stück um Stück verkauft. Nicht zu hungrig, sondern zu reich: Die Menschenfresserei als Vergnügen und Vorrecht einer Elite, als Grenzübertretung, die man sich leisten können muss. In Hostel: Part II (2007) agieren Kunden des Elite Hunting Club ihre sadistischen Fantasien aus, einer davon greift zu Messer und Gabel, ein Cameo-Auftritt des Cannibal Holocaust-Regisseurs Deodato. (Der Hostel-Regisseur Eli Roth inszenierte 2013 The Green Inferno – denselben Titel trug die unheilvolle Dokumentation in Cannibal Holocaust – Aktivisten retten ein Stück Regenwald und geraten in die Hände und Mägen seiner Bewohner.) Die Vereinigung in Masters of Horror: The Washingtonians (2007) lässt sich bis auf den menschenfressenden ersten Präsidenten von Amerika zurückverfolgen. Und in Eat The Rich (1987) wird er wieder einmal umgedreht, der Spieß. Und dieser Text entwickelt den Aufzählungscharakter, den ich befürchtet hatte und ich kann es nicht ruhigen Gewissens als Konzept verkaufen – das Thema frisst sich selbst o.ä. – die Variationen reizen mich schlicht mehr als eine interpretierende Vertiefung (und haben Sie bitte keine Hemmungen, den letzten Teil zu überspringen, sich kurz das Kästner-Zitat einzuprägen, dann Feierabend), und schmerzhaft, wie viele Titel hier verschwiegen werden müssen. Stattdessen einige weiterführende Buchtipps: Kannibalische Katharsis – Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis von Christian Moser (Aisthesis Verlag) oder Vom Fressen und Gefressenwerden – Filmische Rezeption und Re-Inszenierung des wilden Kannibalen von Paul Drogla (Tectum Verlag) oder Meat is Murder! An illustrated Guide to Cannibal Culture von Mikita Brottman (Creation Books). Grob gesagt findet sich der Kannibale im Horrorfilm mittlerweile zumeist in der Zivilisation wieder und hinterfragt sie entsprechend. Die Menschenfresserei dient als vielfältige Metapher: Konsumverhalten, Kapitalismus, Kontrollverlust, unerwünschte Emotionen, Selbstermächtigung und -zerstörung, Tierrechte.5

Viele Wege führen in den Magen. Wie wird wer Kannibale? Die Albtraumlogik des Horrorfilms verlangt keine Erklärungen. „This Thing she give me, something happened. He was so big, he came out sideways and almost tore poor Martha apart“, heißt es über die Geburt von Jupiter, womöglich ein evolutionärer Schritt, aber in welche Richtung? In The Hills Have Eyes (1977) herrscht er über seine Kannibalenfamilie, eine von vielen, die sich auf die Legende des Schotten Alexander „Sawney“ Bean zurückführen lassen, das Oberhaupt einer inzestuös anwachsenden Gruppe, welche sich von Reisenden ernährte. Zwar haben sie den Dschungel hinter sich gelassen, bewohnen aber nach wie vor das Unwegsame. (Höhlen an der Küste Maines in Offspring (2009), die Wälder West Virginias in Wrong Turn (2003), das Erschnüffeln der Beute charakterisiert die Anthropophagen als dehumanisierte Tierwesen.) Diese hier jagt in der Wüste Nevadas, wenn die Wüste selbst nicht längst „human french fries“ aus ihren Besuchern hergestellt hat. Die deutsche Synchronfassung bietet eine abweichende Erklärung an, welche womöglich die Brutalität durch zusätzliche Entmenschlichung abzumildern versucht: Es handele sich um Außerirdische. Als fraglos andersartig sind die Antagonisten einzustufen. Michael Berryman, der Darsteller des Pluto, besitzt keine Schweißdrüsen. Auch ihm wurde die Wüste gefährlich. Eine wiederholt gebrauchte Tagline: The family that slays together, stays together.6

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte von www.youtube.com angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. TOLEDO hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Trailer für den Film The Hills have Eyes (Hügel der Blutigen Augen,1977)

In The Hills Have Eyes ist es Ruby, die nicht nur ans Abendessen denkt, wenn sie ein Baby erblickt. Im gleichnamigen Remake (2006) führen nicht allein die Willkür der Gene, sondern staatliche Atomwaffentests zur Andersheit (dass sie Uranminen behausen könnte auch die Besonderheiten des Stamms in Slave Of The Cannibal God erklären), die man anhand grotesker Körper deutlicher erkennen kann als im Original; die Evolution der Kanalkannibalen bzw. „Cannibalistic Humanoid Underground Dwellers“ in C.H.U.D. (1984) beginnt mit der unsachgemäßen Beseitigung von radioaktivem Abfall. Das Motiv der Vergeltung schwingt mit, das Marginalisierte schlägt zurück, The People Under The Stairs (1991). Während sich in ihrer Abgelegenheit ganze Dörfer auf Menschenfleisch verlegen können – in Die Yuk Mo Moon / We’re Going To Eat You (1980) kann den Besuchern nur noch Kung Fu helfen – empfiehlt sich als Überlebensstrategie für den urbanen Anthropophagen, denn hier muss er selbst Unverständnis und Verfolgung fürchten, die Anpassung. Die wiederkehrenden Familienstrukturen bilden ein Sicherheitsnetz, zugleich eine Arena für die alte Nature-versus-Nurture-Debatte sowie für die obligatorische Rebellion der nächsten Generation, selbst an abweichenden Normen lässt es sich reiben. Der Sohn in Parents (1989) isst zum Leidwesen seiner Kannibaleneltern kein Fleisch, die Töchter in We Are What We Are (2012, Remake von Somos Lo Que Hay, 2010) essen ihren Vater. Regelmäßig wird der Hunger vererbt, von Müttern auf Töchter in Frightmare (1974) und Grave / Raw (2016, hier kann ihn die vegetarische Ernährung fürs Erste aufhalten). Ein kleiner Schritt von der sozialen Gruppe zur neuen Spezies. Die „Eater“ in Bones and all (2022) erkennen einander am Geruch, ein Weg aus der Einsamkeit.7

Poster für den Film Raw (2017)

Poster für den Film Parents (1989)

Sich zum Fressen gernhaben, etwas Dionysisches, mehr oder weniger cute aggression. In My Bloody Valentine, einer Episode von Supernatural (2005-2020), geht ein Paar, von der eigenen Leidenschaft überrascht, in die Tiefe. Blutige Fingerabdrücke bleiben auf der Postkarte am Kühlschrank zurück, die eine Amorette abbildet. (Hinter der tödlichen Ekstase steckt allerdings kein Liebesgott, sondern einer der vier Reiter der Apokalypse. Raten Sie, welcher!) „The barrier between food and sex has totally dissolved“, heißt es zu Beginn von Eating Raoul (1982) über Hollywood.8 Auch in Trouble Every Day (2001) vermischen sich das Küssen und das Beißen, das Ende von Perfume: The Story Of A Murderer (2006) gerät zur Volksorgie, die vom Initiator nichts mehr übriglässt.9 Ziel des kannibalischen Serienmörders und Psychiaters Hannibal Lecter in Hannibal (2013-2015) ist die Augenhöhe mit dem FBI-Profiler Will Graham, was eine Verwandlung voraussetzt. „See, this is all I ever wanted for you. Will. For both of us“, sagt Dr. Lecter nach gemeinsam verübter Tat. „It’s beautiful“, antwortet Will. Der gemeinsame Sturz in den Abgrund.

Poster für die Fernsehserie Hannibal, 2013-2015

An dieser Stelle würden Filme wie Rohtenburg (2006) und Cannibal (2006) passen, die den Fall Armin Meiwes ausschlachten (gierige Beihilfe zum Suizid auch in Feed Me, 2022), der Vollständigkeit halber außerdem Zärtlichkeit der Wölfe (1973) zum Fall Fritz Haarmann oder Dahmer (2002) über Jeffrey Dahmer, der 1991 verhaftet wurde – im selben Jahr veröffentlichte Bret Easton Ellis seinen Roman American Psycho und der Kannibale kam durch The Silence of The Lambs, wenn auch mit Doktortitel, im Mainstreamkino an. Aber wagen wir uns nicht allzu weit aus dem Herrschaftsgebiet der Fiktion heraus.

Dem Nachfahren von 1892 bei Bauarbeiten im Untergrund Londons Verschütteten (Death Line / Raw Meat, 1972) steht allein die Wortfolge „mind the doors“ zur Verfügung. The Woman (2011) spricht wenigstens einige Brocken gälisch. Die „troglodytes“ (auch hier hilft Herodot weiter) in Bone Tomahawk (2015), menschenfressende Ureinwohner Amerikas, kommunizieren pfeifend mit Hilfe eines knöchernen Implantats. Den hochspezialisierten Höhlenmenschen in The Descent (2005) reichen Fauch- und Klicklaute aus, allerdings dürfte die Grenze der Kannibalismusdefinition hier erreicht sein, spätestens bei den Exemplaren des Homo floresiensis in The Cannibal In The Jungle (2015), laut Studienlage kein Vertreter des Homo sapiens. (Nicht nur die Vergangenheit ist gefräßig, auch die Zukunft, wie diverse postapokalyptische Ausblicke präsentieren, Keller (The Road, 2009) oder Ställe (Hell, 2011) voller Vorrat auf zwei Beinen.) The Woman beschreitet einen Mittelweg zwischen rudelartigem Sozialbund und abweichendem Einzelfall, setzt die Handlung von Offspring fort: Die Matriarchin wird zum Projekt eines tyrannischen Familienvaters – aus den Wäldern in den Hobbykeller, allerdings an Drahtseilen. „That is not civilized behavior“, schreit er, als sie ihm den Ringfinger abbeißt und obwohl sie den Ehering wieder ausspuckt. Auch die Haferflocken werden nicht gewürdigt. Am Ende ist er tot und sie zieht mit frischer Familie in die Wälder zurück. Männer essen Frauen, Männer essen Männer.  Frauen, die Männer oder Frauen essen, sind mehrheitlich jung, manchmal solche, die es bleiben oder wieder werden wollen. Der Inhalt spezieller Dumplings / Gaau Ji (2004) lässt sich in die Gebräuche von Märchenhexen aus aller Welt einordnen, Kinderfleisch wird bevorzugt (stets eine Erfolgsgarantie für dämonisierende Verschwörungsmythen). Wenn Frauen ausschließlich Männer essen, dann oft aus ideologischen Gründen. In der Kurklinik in Die Weibchen (1970) liegt Valerie Solanas‘ SCUM-Manifesto nicht nur herum, sondern wird (zumindest was die anzweifelbare Aufschlüsselung des Akronyms – Society for Cutting Up Men – betrifft) wörtlich genommen. Frauen in die Küche, Männer in den Kochtopf! Die unscharfen Grenzen zwischen Wahn und Wille, zwischen Psycho und somatisch. Die Leidenschaft für einen Sänger der Neuen Deutschen Welle in Der Fan (1982) ist diagnostizierbar, er am Ende ein Teil von ihr. Eine Möglichkeit, den tabuisierten Appetit als Fremdkörper zu markieren, liegt im Motiv der Ansteckung: In Cannibal Apocalypse / Apocalypse Domani (1980) grassiert ein Virus in Atlanta, ein Mitbringsel einiger Soldaten aus Vietnam, der beispielsweise im Wunsch, das Mädchen von Nebenan zu beißen, zutage tritt. Wenig später jagt man mit einem Flammenwerfer Kannibalen durch die Kanalisation. Vielleicht also doch eine Metapher. Spider Baby (1967), einer der Alternativtitel: Attack Of The Liver Eaters, beleuchtet das Familienleben der Merryes, deren Mitglieder allesamt ums zehnte Lebensjahr an einer stimmig benannten Erbkrankheit zu leiden beginnen: „It is believed that eventually the victim of the Merrye Syndrome may even regress beyond the pre-natal level, reverting to a pre-human condition of savagery and cannibalism.“ Eine Mutation von BSE führt in Carne Cruda / Fresh Flesh zu ähnlichen Ergebnissen. Der Kannibalismus birgt auch für den Kannibalen gesundheitliche Risiken, was den Prionenerkrankungen zu verdanken ist. Die Diagnose von Kuru in Gannibal (2022-) (oder damals beim Volk der Fore in Papua-Neuguinea) oder der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in der The X-Files-Episode Our Town (1995) schließt die Enthüllung entsprechender Essgewohnheiten mit ein. Das Repertoire des Horrorfilms geht weit über naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle hinaus. Zwar findet die endemisch auftretende Wendigo psychosis (depressive und kannibalische Symptomatik bei nordamerikanischen Ureinwohnern, fragwürdig gesichert) in psychiatrischen Diagnosesystemen Erwähnung, doch in Ravenous (1999) können wir eine unbestreitbar übernatürlich motivierte Fressgier beobachten, die tatsächliche Übertragung der Vitalität des Verzehrten, „this time our hunger was different“. Wie unaushaltbar ist der Hunger, wie wichtig das eigene Leben, das der anderen? (Oder schmeckt nichts anderes derartig gut?10)

Eine weitere Ursache für Anthropophagie: die Notwendigkeit. Eine verschollene Kleinfamilie auf einem Rettungsboot und nur der Antropophagus (1980) überlebt. Ein Arzt auf einsamer Insel kann kompetent auf die eigenen Gliedmaßen zurückgreifen (Segment Survivor Type im A Creepshow Animated Special, 2020, die Adaption der Kurzgeschichte von Stephen King). Auf die sogenannten wahren Begebenheiten – based on true events lautet eine beliebte Tagline auf Horrorfilmplakaten – will ich weitestgehend verzichten, aber findet man sich verloren in der Wildnis wieder, greift seltener ein Kannibalenstamm an als der eigene Hunger. In Supervivientes De Los Andes / Survive! (1976), der ersten filmischen Rekonstruktion des monatelangen Überlebenskampfs nach einem Flugzeugunglück in den Anden 1972, wird eine Weile diskutiert, ob das Fleisch der Verstorbenen Verwendung finden darf. Die Angst, von der Gesellschaft verurteilt zu werden, spricht dagegen. Der vermutete Wille der Verstorbenen spricht dafür, außerdem wird die Bibel herangezogen. Die Analogie zwischen Kannibalismus und Kommunion, kalter Kaffee. (Aber lesen Sie bitte einmal das Gedicht der kannibale von Norbert Conrad Kaser.) Ein weiterer Versuch der Selbstentlastung wird in Hunger (2009) unternommen: Ein Kind, das zwei Wochen im Unfallauto überlebt, indem es sich von der Mutter ernährt, sperrt als Erwachsener eine Gruppe in einen Brunnen und misst die Zeit. Dann taucht ein Skalpell auf, daran eine Nachricht: dreißig Tage ohne Nahrung könne ein Körper überleben. In Treehouse Of Horror XVI (2005), genauer dem Segment Survival Of The Fattest, einer Adaption von The Most Dangerous Game, die seit 1932 mehrfach verfilmte Kurzgeschichte von Richard Connell, greift Homer Simpson schon nach sechs Stunden im Wald zum Menschenfleisch. Nur einige wenige Worte noch zu den wahren Begebenheiten. Das historische Grauen wird im Horrorfilm nachgerüstet, als wäre ein tatsächliches kein ausreichendes. Die erste Staffel von The Terror (2018) erweitert das Leiden und den Hunger der jahrelang in der Arktis eingefrorenen Mannschaften der HMS und HMS Erebus um den Hunger eines monströsen Geschöpfs.11

Van Diemen‘s Land (2009) spekuliert über die Flucht von Alexander Pearce aus einer tasmanischen Sträflingskolonie, sein Proviant in der Wildnis: seine Begleiter. Zwar wird Pearce hingerichtet, doch die Ernährungsumstellung setzt sich in Dying Breed (2008) über Generationen fort. Der Hunger bleibt. Vergleichbares gilt für die Donner-Reisegruppe in Donner Pass (2011). Und ähnliche historische Geschehnisse werden in Alferd Packer: The Musical (1993) durch Gesang und Tanz verziert – geschmacklos? Im ukrainisch-tschechischen Ghoul (2015) reist eine Dokumentarfilmcrew in die Ukraine, um den Kannibalismus während des Holodomors zu beleuchten, fällt aber dem Geist des Serienmörders Andrei Tschikatilo zum Opfer. Überhaupt sollte, wer sich ins Thema vertieft, selbst wenn er nur Gedichte schreiben will, einen stabilen Magen besitzen. Man liest ein Märchen, welches jäh in ein forensisches Fallbeispiel mündet – oder eine ethnologische Recherche in eine Konspirationsfantasie über Kinder konsumierende Stars und Politiker. Seit der Zeit vorchristlicher Reiseberichte: Das Kannibalismusmotiv beinhaltet ein Aufeinanderprallen, die Konfrontation mit dem, was uns – trotz all der Filme – fremd ist oder was uns lieber fremd wäre.12 Erich Kästners Gedicht Über Anthropophagie und Bildungshunger endet mit der hoffnungsvollen Zeile:

Man weiß so wenig …

 

18.12.2023
Fußnoten
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
PDF

©Dirk Skiba

Georg Leß, geboren 1981 in Arnsberg (Sauerland), lebt in Berlin. 2013 erschien sein Gedichtband Schlachtgewicht in der parasitenpresse, 2019 die Hohlhandmusikalität und 2023 die Nacht der Hungerputten, beide bei kookbooks. Ausgewählte Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, vertont und verfilmt.

Verwandte Artikel
18.12.2023
„Fleisch von meinem Bein! Was ist los, was ist los?“
Die literarische Übersetzung und das wilde Denken
31.08.2023
Die uralte Berührung
31.05.2023
Kannibalismus
31.08.2023
Verschling(ung)en – Zum kannibalischen Übersetzen eines kannibalischen Textes
Haroldo de Campos: Cadavrescrito (Galáxias) Übersetzung und Kommentar
31.05.2023
Kannibalisches Übersetzen oder Zur Poetik der Einverleibung