Anleitung zum Schmerzessen
Ein Rezept fürs Performance-Übersetzen
1.
Sayaka Muratas Kurzgeschichte „Zeremonie des Lebens“ spielt in einer Welt, in der die Anthropophagie nicht mehr tabuisiert ist, sondern einen zelebrierten, ja notwendigen Brauch darstellt. Der Wandel vollzieht sich binnen weniger Jahrzehnte ab der Kindheit der Erzählerin Maho Iketani. Die Lebenszeremonie ist eher feierlich als trist und gilt als Geste der Nachhaltigkeit angesichts des Bevölkerungsrückgangs, ein liebevolles Gedenken an die Verstorbenen, deren Lebenskräfte nunmehr denjenigen zufließen, die das Fleisch zu sich nehmen. Muratas Prosa, aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe 1 verwandelt die Fremdartigkeit ihres Kontexts in eine grundelegante Empathie, die der Trauer und der Kontinuität des Lebens den Konsum gegenüberstellt.
Trotz der geschilderten Umstände hegen so einige noch immer starke Vorbehalte gegenüber den Lebenszeremonien, einerseits wegen des verwirrend rasanten Umschwungs in der menschlichen Ethik, andererseits, im Falle von Mahos Freund Yamamoto, wegen Erfahrungen mit schlecht zubereitetem Fleisch und Lebensmittelvergiftungen. Auffälliges Detail: Der Reiz des Kannibalismus läge in der Zubereitung der toten Leiber. Vor meinem geistigen Auge ist der Kannibal·in das urweltliche Verschlingen an den bluttriefenden Lippen anzusehen; ich stelle mir einen abstoßenden Geschmack nach Innereien vor, von den Knochen gerissene Haut, die kräftigen Kiefer der Essenden, den Gaumen, der erforderlich ist, um eine solche Delikatesse auszuhalten oder zu genießen. In „Zeremonie des Lebens“ wurde die Praxis des Fleischverzehrs im Laufe der Zeit perfektioniert und mit Absicht und Gastfreundschaft überlagert. Im langsamen Garen und starken Würzen liegt eine gewisse Normalität; das Fleisch wird den Gästen zu Gemüse, Pilzen und Misosuppe serviert. Maho entdeckt nach Yamamotos Tod, dass ihr Freund für seine Zeremonie weitaus komplexere Rezepte festgehalten hat. Gerichte wie „mein Fleisch als Hackbällchen mit geriebenem Rettich“, die eine Herausforderung für seine Nahestehenden darstellen, werden gemäß Yamamotos Letztem Wunsch zubereitet.
2.
Um die Originalzutaten zu ehren und das konsumierende Publikum zu verwöhnen, muss die Übersetzer·in bestimmte Rezepte entwickeln und sich daran halten.
Auf der Graduiertenschule entwickelte ich eine Vorliebe für das herausragende Werk der Performance-Künstlerin Marina Abramović. Erst regte sich mein Appetit als Reaktion auf einen unbestimmten Hunger: Wie kann ein Mensch die Wunden des eigenen Traumas verwandeln, und in was? Als ich mein Gedicht „Rhythm 0“ als Antwort auf Abramovićs berüchtigte Performance von 1974 schrieb, die denselben Titel trug2, erblickte ich die Rahmen eines Fensters in die Welt dieser Frage. Mein Forschen und Schreiben geriet von nun an zu einer Art ekphrastischen Übersetzung: Ich beobachtete die Werke von Abramović, nahm sie begierig in mich auf, und ohne die immaterielle, zeitbasierte Essenz der Originalstücke erleben zu können, durchdrang ich ihre fotografischen und textlichen Überreste mit meinen eigenen Reflexionen. Diese Praxis des Performance-Übersetzens entwickelte sich in meiner Dichtung zu einer subjektiven Archivierung, einer Studie sinnlich-ephemerer Erscheinungen und Beziehungen, in der ich das Werk und die Biografie der Künstlerin begleiten und dann die Tiefen meiner physischen und psychischen Erfahrung in einen Rahmen von Performance-Details und Subtexten projizieren konnte. Schon bald drehte sich das Bestreben um Fragen der Grenzen zwischen zuschauender Dichter·in und Künstlerin – und zwischen den Medien der Sprache und des Körpers.
Die Anweisungen für Abramovićs Rhythm 0 erklären in ihrer Stimme: „Ich bin das Objekt.“3 Eine Situierung des Subjekts als Objekt ist dem lebendigen Dokument eines afroqueeren Körpers und einer afroqueeren Psyche in der Diaspora und daheim nur allzu vertraut. Was bin ich im Zugriff von Staat und Kultur, Polizei und Öffentlichkeit, wenn nicht ein Objekt, das benutzt, missbraucht, vorgeführt, verlassen wird? Welche Macht könnte ich neben der Sprache haben, um meine Vollständigkeit als soziales Wesen zu verteidigen? Doch das Unterfangen, diesen Erfahrungsschmerz an die Seite von Abramovićs Angeboten zu stellen, birgt Probleme der Aneignung und Identität, da nicht alle Körper gleich sind oder gleich wahrgenommen werden. In dem Wissen, dass meine ethnische Zugehörigkeit, mein Geschlecht und mein Alter in diametralem Gegensatz zur weltberühmten europäischen Künstlerin stehen, ergründe ich ihre Werke und Geschichten und suche nach Anknüpfungspunkten, die die Grenzen einer jeden Identität verwischen könnten.
In meiner Fixierung konzentriere ich mich besonders auf ihr frühes Schaffen, die tödlich verwundbare Außenseiterin in der Kunstwelt. In diesem Stadium stellten die Werke ihre körperliche Unversehrtheit infrage, lieferten sie dem Publikum aus, und ihre sozialen Privilegien wurden dadurch untergraben, dass sie eine Frau war, die in einem beispiellos riskanten Medium arbeitete. Bei der Performance von 1974 stand sie kurz davor, Opfer von Vergewaltigung und Mord zu werden, ihre Haut wurde mit Dornen zerstochen, mit Klingen aufgeschnitten, ihr Blut genossen von einem Publikum, das ihre Verletzlichkeit ausnutzte. In der Gewaltsamkeit dieses Stücks konnte ich ein Echo meiner eigenen Ängste angesichts der tödlichen Gefahr meines Lebens als queere Afrikaner·in hören, meiner Panik, als eine Attraktion zu existieren, die für die meisten nichts ist als Fleisch. Als ich diesen Echoraum betrat, tat ich dies ganz im Sinne des Anthropophagen Manifests (1928) von Oswald de Andrade, das vom Potenzial für Assimilation und symbolische Wiedergeburt handelt, wenn marginalisierte oder kolonisierte Subjektivitäten die Substanz europäischer Kulturartefakte überholen. 4 Ich fand Poesie im Raum zwischen der Subjektivität, dem Ort und der Zeit des Künstlerinnenkörpers und dem meinen. Was blieb, war nur eine Frage des Mediums und der Methode.
3.
Spirit Cooking, Abramovićs kontroverse Performance aus dem Jahr 1997, entspringt ganz besonders der Verschmelzung von Blut und Text, denn die Künstlerin malt seltsame und schockierende Anweisungen mit Schweineblut an Wände.5 T Die zugleich verstörenden, witzigen und rituellen Angaben waren zuvor in einem stilisierten Kochbuch versammelt worden, das mit dem allgemeinen Untertitel als „essenzielle aphrodisierende Rezepte“ veröffentlicht wurde.6 Der vielleicht berühmteste Eintrag in diesem Kochbuch ist die Anleitung von Abramović, „den Schmerz zu essen“, nachdem man sich mit einem scharfen Messer in den eigenen Finger geschnitten hat.
Wie isst ein Mensch seinen Schmerz, und ist das befriedigend
Die Umgestaltung macht einen primären Reiz in meiner Übersetzung von Abramovićs Werken aus und bahnt einen Weg in diese neuen Interpretationen traumatischer Erfahrungen. Andeutungen des Auskostens und Genießens konkretisieren meinen Austausch mit ihrer extremen Ära der relationalen Performances. In Stücken wie Rhythm 0 entsteht eine provokante Verletzlichkeit in der masochistischen Unterwerfung der Künstlerin unter die Macht und den Willen des Publikums. Ein zentraler Gesichtspunkt meiner Übersetzung bezieht sich auf eine erotische Spannung in der Rolle der Künstlerin als Verursacherin der Bedingungen, unter denen ihr Leiden vor sich geht. So erklärt die Forscherin Jaime Brunton in einer Untersuchung zum Masochismus in Abramovićs Performance-Werk: „Das Opfer hat die Situation überhaupt erst erschaffen, indem es einen Folterer ausgewählt und spezifische Formen der Folter für die ultimative Zufriedenheit des Opfers entworfen hat.“7 Ähnliche Dynamiken zeigen sich im marginalisierten queeren Subjekt, dass mittels transgressiver Sexualpraktiken wie Sadomasochismus eine Befreiung imaginiert. Gibt es Raum für ein afroqueeres Subjekt, das die Bedingungen seines eigenen Leidens neu definiert, den Körper als Ursprung sowohl des Schmerzes in der Gesellschaft als auch der subversiven Freude betrachtet? In meiner Übersetzung habe ich diese erotische Perspektive als kraftvolles Medium oder Rezept für die Befreiung aus sozialen Fallstricken und Zwängen verstanden und mir eine perverse Befriedigung vorgestellt, nach der es heißt: Dies ist mein Körper, dieser Schmerz ist mein Festmahl, eine Mahlzeit aus mir selbst.
4.
In Sayaka Muratas Kurzgeschichte wird die Scham bezüglich sexueller Praktiken weitgehend aufgehoben. Auf den zeremoniellen Fleischverzehr folgt der ebenfalls heilige Brauch der Befruchtung. Als Abhilfe gegen den Bevölkerungsschwund sind die Jungen und Virilen dazu aufgefordert, freien Geschlechtsverkehr zu treiben, in der Hoffnung, dass sie sich sodann fortpflanzen. Der Anlass der Lebenszeremonie gilt als die günstigste Gelegenheit, den Befruchtungspartner zu finden – das freudig verzehrte Fleisch des kürzlich Verstorbenen setzt Lebensenergie und ein verheißungsvolles Potenzial für die Empfängnis frei. Selbst der öffentliche Geschlechtsverkehr im Anschluss an dergleichen Zeremonien ist normal geworden, schockierend und zugleich schön. „Es ist wirklich eine hervorragende Sitte, sich Leben einzuverleiben und zugleich Leben zu schaffen …“
Die in diese Gesellschaft geborenen Nachkommen werden bisweilen in Kinderzentren aufgezogen, wo sie als Ressource der Gesellschaft abseits der Verantwortung bestimmter Elternschaften betreut werden. Das primäre Ziel besteht darin, eine üppige Bevölkerungszahl zu erreichen. Die Erzählerin Maho äußert ihre Abneigung gegen dieses Vorgehen und auch gegen die Zeremonien: „Anscheinend wurden die Menschen immer animalischer.“ Ein Gespräch mit Yamamoto dreht sich um die Normen der Zivilisation und die Natur der Normalität selbst. Wie können die Dinge absolut gesehen werden, wenn die Welt als illusorische und „schillernde Fata Morgana“ erkannt ist, in der Moral zu den „trügerische[n] Konstrukte[n]“ gehört, „die uns eine in ständigem Wandel befindliche Welt vorgaukel[t]“.8
Oliver Precht wirft in „Anthropophagie und Gastfreundschaft“ auch Fragen kultureller Bräuche auf. Demnach sei zu überlegen, worin die Ethik der Übersetzung in antikolonialen Zusammenhängen zu verstehen sei. „Denn die Möglichkeit, in einen bindenden Vertrag einzutreten, setzt immer schon den Gesellschaftsvertrag voraus, den es [das Sprachspiel des Vertragsschlusses] ja eigentlich erst begründen soll.“9
Wenn die Gesetze der Verbindlichkeit so unbewusst hinterlistig sind, eine so wacklige Grundlage aufweisen, dass sie ständig neugefasst werden, wie weit können Übersetzer·innen ihre Verführung treiben? Wie weit lässt sich der Vertrag anpassen – in der intermedialen Dynamik, aber auch zwischen Kultur und queeren Menschen, Folternden und Gefolterten, Fressenden und Gefressenen? Und wohin gehen unsere Erfahrungsüberschüsse an Körper, Identität, Sprache oder ästhetischem Medium? Wie die Kinder, die nach lebenszeremoniellen Befruchtungen geboren wurden, zieht meine Übersetzung, obwohl sie kannibalisch ist, perspektivisch ein Rezept für „alle, die allen gehören“ in Betracht, ein sorgfältig zubereitetes Festmahl des neuen kulturellen Lebens, das als eine subversive Selbstkonstituierung auftritt.
5.
Die aphrodisischen Rezepte in Abramovićs Spirit Cooking enthalten ganz wie die Praktiken in Muratas Kurzgeschichte als Zutaten etliche Körperflüssigkeiten: Muttermilch, Speichel, Sperma. Der Vertrag solcher absurden Rezepte zielt auf eine persönliche und öffentliche Befriedigung ab, kann aber auch den erotischen Vertrag zwischen Leben und Tod nachbilden. Durch Zuhören und im Austausch mit den Originalzutaten stellen sich meine Performance-Ekphrasen ein dynamisches Verjüngungspotenzial vor – eine afroqueere Übersetzer·in findet Nahrung in kulturellen Negativitäten und macht den eigenen Schmerz schmackhaft. Verschlingen und verschlungen werden: Das ist die Ursprache des Zorns und der Angst, des Kummers und der Sehnsucht.
In meinem ersten Sommer auf der Graduiertenschule schrieb ich, bevor ich mich mit formalen Übersetzungen von Abramović beschäftigte, bevor ich meine Rezepte perfektionierte, eine Geschichte in Versen, unheimlich in ihrer eigenen unbewussten Neigung zur Anthropophagie in Sprache und Identität. Sie spielt in meiner Heimatstadt Ibadan, Nigeria, und handelt von einer Affäre zwischen der Schwarzen Erzähler·in und einer weißen französischen Übersetzer·in, die in heißhungrigem Konsum endet. Zum Abschluss meiner Kannibalismus-Abhandlung folgt hier ein unbearbeiteter Ausschnitt:
grinding down with obstinate
teeth, I was already eating the erotic quality inherent to this
transformation. There was another life for you in it, coursing through me
all alive, I started to feel it. I pondered our convergence as I grew
drowsier, falling deeper into the blood-warmed bed, blissfully
gorged on you, fast becoming.
[wetzend mit verbissenen
Zähnen aß ich bereits die erotische Qualität in dieser
Transformation. Darin lag für dich ein anderes Leben, das durchströmte mich
ganz lebendig, ich spürte es langsam. Ich erwog unser Einswerden, während ich
schläfriger wurde, tiefer ins blutwarme Bett fiel, selig
vollgeschlagen mit dir, schnell bekömmlich.]10