TALKS TUPI OR NOT TUPI Titty, or not titty, that is the question
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Titty, or not titty, that is the question

Manche Dinge kriegst du nicht verstoffwechselt. Halb übersetzt, halb verwandelt, durch dünne Speichel- oder Milch- oder Säurefäden miteinander verbunden, zirkulieren Ambivalenzen und Konzepte auch durch diesen Text, der sie nicht verdaut, nur anschaut. Ick-fress-dich hier eher als Ek-phras-tik: Bestandsaufnahme, unvollständig.

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Tarsila do Amaral, Abaporu, 1928

To pi honest: Manifeste zu lesen ödet mich an. Ihr aktionistisches Potential erschöpft sich oft in der Geste des Für und Wider, kaum verschleiert durch rhapsodische Form. Mehr als der Text interessiert mich das Bild. Und etwas verwirrt mich daran. Die brasilianische Künstlerin Tarsila do Amaral schenkte ihrem damaligen Ehemann, dem Dichter Oswald de Andrade, zu seinem Geburtstag am 11. Januar 1928 das Gemälde einer verstörend unproportionalen und nackten Figur neben einem gigantischen Kaktus. Übergroßer Fuß, riesenhafte Hand, viel kleiner dagegen der melancholische Arm, auf das Knie gestützt, und winzig der Kopf unter einer tropischen Sonne oder Kaktusblüte. Das Bild hatte keinen Titel. Um einen Namen zu finden, verschlangen Oswald und sein Freund, der Dichter Raul Bopp, das Tupí-Guaraní-Wörterbuch des Jesuitenpriesters Antonio Ruiz de Montoya von 1640 und erfanden – spuckten aus – einen Neologismus aus abá, „Person“, poro, „Menschen“ und -u, „isst“ – Abaporu, der Menschenfresser. Nacktheit (Ursprünglichkeit), Füße (Verbindung mit der Erde), Kaktus (Verbindung mit der Vegetation) und die Sonne oder Blüte (Sonnengöttin) signalisierten, schon vor der Benennung, dass die Figur eine indigene Person darstellt, eine Geste der Rückbesinnung auf die Ursprünge, die für die Schaffung, so die Erzählung, einer modernen, von der europäischen Kolonisierung unabhängigen brasilianischen Identität wegweisend sein sollte. Die Benennung als Abaporu erst zieht die Verbindung zur europäischen Figuration der brasilianischen Indigenen als Menschenfresser – jene Volte, die Oswald de Andrades Manifesto antropófago (Anthropophages Manifest) 1928 ihre Schleuderkraft geben würde, durch die stolze Identifizierung mit dem Kannibalen, der Europa (zurück)frisst. Das Bild war also zuerst da und inspirierte die Benennung und den Text. Zur Veröffentlichung des Manifests steuerte do Amaral eine Zeichnung bei, die dem Gemälde nachempfunden war, um Oswalds Programm Nachdruck zu verleihen: „Kinder der Sonne, Mutter der Lebenden.“ – „Gerade die Kleidung… hat der Wahrheit Gewalt angetan. Die Reaktion gegen den bekleideten Mensch [sic].“1

Oswald de Andrade: Manifesto Antropófago, 1928

Es gibt also eine interessante Nachträglichkeit, und diese ist vielleicht Auslöser meiner Verwirrung: die melancholische Figur aus do Amarals Gemälde ist erst später zum Anthropophagen geworden. Ja, vielleicht hat sie Hunger. Ja, sie kontempliert vielleicht etwas, das abwesend ist. Aber sieht sie aus, als wolle sie demnächst auf einem Kolonialherren rumkauen? Vielleicht hat die Figur auch gerade etwas verschluckt, von dem wir nichts wissen dürfen – ein Orakel, das Ohr einer Spitzmausratte, etwas Milch? Vielleicht hört sie der Sonne zu, den eingepressten Rillen ihrer goldenen B-Seite? Um der banalen Wahrheit des Manifests zu entkommen – nämlich der Tatsache „that cultures—all cultures—have always constituted themselves by symbolically metabolizing elements from outside them“ – muss man, schreibt Luis Pérez-Oramas, der Kurator der Tarsila do Amaral Retrospektive im Museum of Modern Art (2018), den Text beiseite lassen und die Bilder befragen.2

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Vielleicht will ich mir auch die Bilder anschauen, weil mir weder das Manifest, noch die Erweiterung der Anthropophagie auf Übersetzungstheorie durch Haraldo de Campos, noch die Weitergabe der Kannibalismustrope in der literarischen Übersetzungstheorie der letzten Jahre als dekoloniale Figur einleuchtet. Das hat ganz basale Gründe: Vielleicht bin ich ein empfindlicher Hasenfuß. Ich hadere scheinbar mit dem Umstand, dass auch nach mehrfacher Einordnung, Umwidmung und Reappropriierung eine gliederzerfleischende Gewaltmetapher eine gliederzerfleischende Gewaltmetapher bleibt. Sei sie auch ursprünglich – doch was heißt ursprünglich, wir haben ja keine Berichte der Tupinambá, die ihre Praktik mit eigenen Worten erklären, nur interpretierende, deformierende Texte und Bilder europäischer Reisender und Kolonialisten – die Beschreibung einer ritualisierten, sozial sanktionierten und zweckdienlichen kulturellen Praktik gewesen und damit das Wort Gewalt hier natürlich zu grobschlächtig. Dennoch, keine symbolische Abstraktion, theoretische Auslegung, diskursive Garnierung oder sonst ein intellektueller fusion cuisine Zauber konnte mich bisher davon überzeugen, im Zerlegen, Verspeisen und teilweisem Ausscheiden des ‚Anderen‘ ein nachahmenswertes Muster kultureller, geschweige denn übersetzerischer Praktiken zu sehen. Klaro Schock, klaro Erotik. Aber was mich als Übersetzerin interessiert, sind Denkfiguren und Bilder, die Übersetzen als ethisches  Handeln verständlich machen (ich agiere so, dass das andere Subjekt wird), und dafür taugt der Kessel kannibalistischen Buntes über dem Feuer der vermeintlich anti-europäischen Geste der Emanzipation für mich nicht. Mir ist auch nicht klar, wie die Anthropophagie „als Erfahrung einer radikalen, wechselseitigen Transformation“ gedacht werden kann, als ein „welchselseitiges Sich-Verschlingen, in dem nicht mehr deutlich zu unterscheiden ist zwischen dem, der frisst und dem, der gefressen wird“, wie Melanie Strasser in diesem Dossier schreibt. Nicht nur bin ich ein Hasenfuß, sondern auch von erschreckend kindlich-beschränkter  Bildlogik: Ich sehe immer nur einen im Kessel (in Fesseln) und den anderen davor. Wie kann der Gefressene gleichzeitig seinen Fresser fressen? Schon eher leuchtet mir ein, dass ein Stück Fleisch herumläuft und fragt „Was ist los, was ist los?“, wie es uns Douglas Pompeu dankenswerterweise vorführt. Dennoch, zu fragwürdig ist mir oft der Rest, der Exzess, der bleibt, wenn Bilder/Metaphern von Gewalt mit kritischer, emanzipativer Absicht zirkuliert werden.

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Festzuhalten ist, dass in den anthropophagischen Daten der zwei brasilianischen Modernen – des Modernismo mit dem Manifest von Oswald de Andrade  und des Concretismo/ Tropicalismo mit dem anthropophagischen Übersetzen von Haraldo de Campos – die Grenzen zwischen Erfahrungen und Konzepten von Kessel/Fresser, Kolonisierte/Kolonisierer, westlich/nicht-westlich, native/non-native, of color/white so verschlungen verlaufen, so spezifisch bezogen auf die Ausbildung einer brasilianischen nationalen Kultur, dass sie kaum anwendbar scheinen auf Machtbeziehungen und Widerstand in anderen kulturellen Regionen, geschweige denn auf die Dekolonialisierung der Übersetzung (maßgeblich durch den Aufsatz von Else Ribeiro Vieras im Sammelband Post-Colonial Translation3). Denn es waren Ende der Zwanziger Jahre nicht schwarze oder indigene Künstler·innen und Verfasser·innen, die das anthropophagische Konzept proklamierten, um sich von der Dominanz europäischer Kultur- und Identitätsbildung zu befreien, sondern zumeist weiße Vertreter der Ober- und Mittelschicht, plantagenbesitzende Agraroligarchie – wie Tarsila do Amaral –, die in Paris ausgebildet wurden und die für die Schaffung einer eigenständigen Moderne Brasiliens auf die kannibalistische Trope zurückgriffen, zu einem Zeitpunkt, da das Primitivistische und der Rückgriff auf nationale, ethische Identität in Paris en vogue war. Insbesondere Simone Homem de Mello hat in diesem Dossier da etwas Licht ins Dunkel gebracht und meiner Verwirrung Abhilfe geschaffen:

„Denn am Ende kannibalisierte die Anthropophagie das indigene Amerika mehr als das vorgeblich kannibalisierte Europa, denn letzteres war ihr nicht nur viel näher (und eigen), sondern lieferte ihr auch den Diskurs (der Reisenden des 16. Jahrhunderts), das Referenzmaterial (der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts) und die Handlung (Kolonisierung), auf die es als „wildes Böses“ bellizistisch (Avantgarde, militärischer Ausdruck) reagieren würde. […] Während die indigene Herkunft im Manifest nur Gegenstand der Rede ist, ist der europäische Kolonisator Gesprächspartner, Zielscheibe und Adressat des Anthropophagischen Manifests, das aus der fiktiven Sicht dessen geschrieben ist, der sich nicht von ihm kolonisieren ließ.“

 Die karnevalistische Verdrehung und Ironie setzt sich laut Homem de Mello für eine „Enthierarchisierung der Beziehungen zwischen dominanten und dominierten Kulturen“ ein. Es ist genau diese Enthierarchisierung, gepaart mit Enthistorisierung von Kulturbegriffen, die paradoxerweise dazu betrug,  dass Anthropophagie in der konkreten Avantgarde der 1950er und 1960er „als antikoloniale rhetorische Geste wiederentdeckt wurde, als Alibi für die adaptierende oder interpretierende Aneignung anderer künstlerischer Werke und als Legitimation für eine Ästhetik der Melange, der enthierarchisierenden und enthistorisierenden Vermischung ursprünglich unverbundener Elemente und Bezüge“. Während die theoretischen Schriften von Haraldo de Campos dieser Lesart Vorschub leisten und „die irrtümliche, aber immer noch bestehende Vorstellung [verbreiten], dass eine Transkreation die Schaffung eines Textes sei, der dem Original ‚untreu‘ würde“, zeugten laut Homem de Mello die eigentlichen Übersetzungen der Konkreten Avantgarde vielmehr von Texttreue in Bezug auf den Buchstaben, die Form, die souveräne Nachbildung und nicht Auslöschung des Originals.

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Tarsila do Amaral, Antropofagia (1929)

Wenn es in Tarsila do Amarals Abaporu von 1928 keinen Hinweis auf Fressen oder Gefressenwerden gibt, so drängt in einem anderen, mit ihm eng in Verbindung stehenden Werk zumindest etwas anderes ins Blickfeld: ein Körperteil, das für Ernährung steht, eine riesige Brust. Ich spreche von dem Gemälde Antropofagia von 1929, in dem die Figur aus Abaporu gemeinsam mit einer zweiten, weiblichen Figur verschlungen sitzt. Vielfach ist darauf hingewiesen worden, dass Abaporu, Antropofagia und ein drittes Bild einen starken Zusammenhang bilden, nämlich das Porträt A Negra, das do Amaral 1923 in Paris malte. Luis Pérez-Oramas geht soweit zu formulieren: „the idea that A Negra was devoured by Apaporu, and that from that swallowing, that (symbolic) digestion, arose Anthropophagia“.

Tarsila do Amaral, A Negra, 1923

A Negra, eines der maßgeblichen Gemälde der brasilianischen Moderne, ist das Porträt einer schwarzen, nackten, Frau mit monumentalen Gliedmaßen vor abstraktem Hintergrund, über der Schulter ein Bananenblatt, im Zentrum des Bildes ihre große Brust. Auch wenn die Darstellung der Körper nackter schwarzer Frauen eine gängige primitivistische Trope war, die besonders im Paris der 1920er Jahre groß in Mode war – man denke nur an Gaugin4 –, so mag man dem Bild seine progressive und sozialkritische Seite nicht absprechen. Noch vor der Rückbesinnung auf indigene Ursprünge mit Abaporu und dem Manifest versuchte hier eine weiße Künstlerin der Oberschicht, eine schwarze Frau ins Zentrum zu stellen, wie um zu sagen, die brasilianische moderne Identität könne nicht an der afrobrasilianischen Wirklichkeit und der Aufarbeitung der Sklaverei (die erst wenige Jahre zurücklag – Brasilien beendete als letztes Land Nord- und Südamerikas die Sklaverei 1888) vorbei aufgebaut werden. Neben der Assoziation mit Plastiken der Yoruba-Göttin Yemanjá ist jedoch eine andere Implikation aufschlussreicher, ein Faden, den do Amaral selbst legt und der in ihre Kindheit auf der Fazenda der Eltern zurückführt. In einem Interview 1972 erinnert sie sich, „daß die schwarzen Dienstmädchen erzählten, wie Sklavinnen ihre Brüste verlängerten durch das Gewicht von Steinen.“5 Dies geschah, damit die Sklavinnen auf dem Rücken Kinder säugen konnten – ihre eigenen und andere –, während sie ihrer Arbeit nachgingen. In einem unbedingt lesenswerten Aufsatz legt die Kunsthistorikern Grace Sparapani dar, dass die Trope der großen, schwarzen Brust in do Amarals Bild somit nicht nur Assoziationen weckt an die grausame Deformierung schwarzer Körper in kolonialer Ausbeutung, sondern auch an die „schwarze Amme“, mãe preta, die die Kinder der Sklavenhalter säugen musste – und die damit gezwungen war, ihr Fleisch – übersetzt in Blut, übersetzt in Brustmilch – preiszugeben.6 Eine Praxis also des weißen, institutionalisierten Kannibalismus. So gesehen kannibalisierte die Anthropophagie in ihren Bildwelten nicht nur, wie Homem do Mello schrieb, das indigene Amerika, sondern ebenso das schwarze Amerika, während sie vorgab, das weiße Europa zu verschlingen.7 Wer wollte vor diesem Hintergrund noch ernsthaft versuchen, die anthropophagische Übersetzungsidee für irgendetwas zu retten oder als Chiffre multidirektionalen Verschlingens zu verallgemeinern, enthält sie doch neben der offensichtlichen und durch keine Karnevalisierung zu rettenden Grausamkeit soviel unverdautes, uneingestandenes Gewaltpotential weißer Macht? Die Proklamation des Manifests: „Nur die Anthropophagie vereint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch. […] Das einzige Gesetz der Welt.“ entpuppt sich damit nicht nur als banal, sondern als unmissverständlich brutal und, leider immer noch, kolonial.

„Re-Antropofagia“ von Denilson Baniwa (2018)

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Exkurs: Die amerikanische Dichterin Elizabeth Bishop, die ab 1951 in längeren Aufenthalten in Brasilien lebte, unter anderem mit der Architektin Lota de Macedo Soares, ist nicht dafür bekannt, dass sie sich stark für die Belange der indigenen oder afrobrasilianischen Bevölkerung einsetzte. Ein fast unheimliches Echo von Oswalds „einzigen Gesetzes der Welt“ – als Ausdruck weißer kannibalistischer Energie – begegnet uns überraschend unmaskiert in dem Gedicht In the Waiting Room aus Geography III von 1976. Bishop beschreibt, wie das lyrische Ich – sie selbst kurz vor ihrem siebenten Geburtstag – in einem Wartezimmer des Zahnarzts in Worcester, Massachusetts durch den National Geographic blättert. Dort stößt sie unter anderem auf Bilder afrikanischer Frauen: „Their breasts were horrifying“. Die Welt-Bilder, zusammen mit den Schreien der Tante aus dem Behandlungszimmer, lösen einen Erkenntnisschock aus, ein taumelndes Wahrnehmen der eigenen Subjektivität in Verbundenheit mit allem anderen, ausgedrückt durch ein Aus-der-Welt-Fallen – „the sensation of falling off / the round, turning world“. Die Rettung aus dem Taumel und die Besänftigung des Schreis, der auch aus dem eigenen Mund zu kommen scheint, erfolgt durch eben jene schwarzen Brüste – das Gedicht stillt sich gewissermaßen an ihnen:

What similarities—
boots, hands, the family voice
I felt in my throat, or even
the National Geographic
and those awful hanging breasts—
held us all together
or made us all just one?

Welche Ähnlichkeiten–
Stiefel, Hände, die Familienstimme,
gefühlt in meinem Hals, sogar
der National Geographic
und diese schauderhaft hängenden Brüste–
hielten uns alle zusammen
oder machten uns alle zu einem?

Übersetzung: Steffen Popp8

Die schwarzen Brüste werden zugleich abgestoßen und usurpiert, sie werden zur Trope der Verbundenheit, zum Zentrum der Welt, wie in do Amarals Bild – ohne dass der abwertende, rassistische Blick dabei bewusst gemacht wird. Exkurs Ende.

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Lygia Clark, Baba Antropofágica, 1969

Mehr als vierzig Jahre nachdem Tarsila do Amaral und Oswald de Andrade in Paris die Inspiration für ihre anthropophagischen Proklamationen gesammelt hatten, im Austausch mit ihren europäischen Kolleg·innen, in Studium, in Diskussionen über Kubismus und Primitivismus, über Farbe und Sujets, nahm die brasilianische Künstlerin Lygia Clark in Paris die Fäden wieder auf. Clark unterrichtete an der Sorbonne, nachdem sie 1950  – übrigens genau wie Tarsila do Amaral im Jahr 1923 – bei Fernand Léger gelernt hatte. Ihre Arbeit Baba Antropofágica (Kannibalistischer Speichel) von 1969 bestand darin, Studierende zu einem Handeln anzuleiten, das die Dichotomien von Subjekt und Objekt, von Innen und Außen auf zarteste Weise unterlaufen oder wortwörtlich verwirren würde. Um eine auf dem Boden liegende Person, die ihre Augen geschlossen hält, knien Menschen mit Fadenspulen im Mund. Nun wird der Faden aus dem Mund abgerollt und auf der Person verteilt, in speichelgetränkten Linien, Schlaufen, Haufen, Knäulen, bis eine kokonartige Schicht den Körper der Person bedeckt. Anschließend wird die Schicht von den Spulenmenschen, die jetzt ihre Augen öffnen, gelüftet, entfernt, zerrissen.

Clark sieht sich als Initiatorin nicht von Happenings oder Body Art, sondern von psychischen Prozessen in der Spur transgressiver Logik von Verschlingen und Erbrechen. Logiken des Abjektiven, die nur bedingt Berührungspunkte mit der Anthropophagie, also der Menschenfresserei, haben müssen.9 Trotzdem benannte Clark diese Arbeit, die mit einem neunminütigen Ausschnitt in dem Dokumentarfilm „O mundo de Lygia Clark“ von Eduardo Clark (1973) überliefert ist, mit direktem Verweis auf die anthropophagischen Konzepte ihrer Vorgänger·innen. Warum? Schaut man sich die Dokumentation an, erinnert wenig an Verschlingen oder gar symbolischen Kannibalismus. Doch, vielleicht zeigen die aus dem Mund abgespulten Fäden ein Erbrechen an, dem ein Verschlingen vorausging: Dann wäre die Person auf dem Boden kollektiv von den Spulenmündern erbrochen, also zuerst verschlungen und jetzt erschaffen worden, und die Fäden, die sich auf den Körper legen, entsprächen dem Magensaft, den die Konvulsionen noch hervorbringen. Oder vielleicht gab es, auf symbolischer Ebene, die verschlungene Person vorher gar nicht, vielmehr beginnen die Spulenmünder, ihr Inneres nach außen abzurollen und dadurch eine kollektive Körperlichkeit und Subjektivität zu erschaffen? Am Anfang fühle es sich an, sagte Lygia Clark, als zögen die Menschen den Faden aus ihren Mündern. Aber mehr und mehr habe man das Gefühl, als würde man seine Eingeweide herausziehen.10 Wenn Tarsila do Amaral, so Luis Pérez-Oramas, die moderne Periode der brasilianischen Kunst initiiert hatte, dann brachte Clark sie zu Ende.11 Vielleicht, denke ich, liest sich das in dieser Performance ab: Clark erbrach(te) die kannibalistische Signatur der Moderne zu Ende, indem hier die Magensäfte, der Speichel, nun nicht zu einer Verdauung des Einverleibten (des Einflusses), sondern der Schaffung eines kollektiven Leibs (durch Ausflüsse), einer mehrfach verknäulten Beziehung, einer Verknüpfung von innen und außen, eigen und fremd, von künstlerischer und sozialer Sphäre dienten.  

Lygia Clark, Baba Antropofágica, 1969

Doch kommen mir, ehrlich gesagt, Verschlingen und Magensäure zuerst gar nicht in den Sinn, wenn ich die Bilder sehe. Bei einem schwarz-weiß-Foto, das die Aktion dokumentiert und die Zartheit der Fäden und den eigenartig kontemplativen Gesichtsausdruck der darunter liegenden Frau zeigt, nähert sich unwillkürlich eine andere Assoziation: Geburt.  Käseschmiere. Plazenta. (Wer schrieb dann aber wiederum, dass die in manchen Kulturen verbreitete Praktik, die Mutter nach der Geburt die Plazenta essen zu lassen, eine Art Kannibalismus ist?) Im Jahr 2008 fand ein Re-Enactment von Baba Antropofágica in einer Galerie in TriBeCa, New York statt. Die Autorin Mary Carter nahm daran teil und schildert die Wahrnehmungen der Beteiligten, die sich nach jeder ‚Runde‘ – denn  die Situation wurde mehrmals mit veränderten Rollen wiederholt, damit sich keine einzelne Erfahrung als Quintessenz der Situation abspeichert, gewissermaßen kein Original – über das austauschten, was sie erlebt hatten:

One person who took a turn lying on the floor said she felt as though she was being birthed. The layers of thread made her feel as though she was encased in a womb: when the mesh was pulled away it was as if she were birthed into the light. Later in the evening, I noticed that the discarded string from previous performances began to look like a placenta.12

Als Übersetzerin interessiert mich etwas an dieser Situation, die ich im Grunde (ich lehne mich weit aus dem Fenster) als anti-anthropophagische lese. Ich ziehe jetzt gewissermaßen selbst einen möglichen Faden aus dem Mund: „Geburt“ eines übersetzten Textes als Drittes – nicht als die Person in der Mitte, nicht als die kollektiven Drooler & Spooler drum herum, sondern als das entstehende Gewebe, das die Konturen der Person nachahmt… und als die in der Gegenwart sich entwickelnden Verknüpfungen im Raum. Routen und Fäden, die jeweils unterschiedlichste Einflüsse vereinen. Und woher ‚das‘ alles kommt, was ich in die Übersetzung hineingebe – das Erbrochene, oder köstlich Erbrachte – wer weiß das schon! Ob ich es aß wie einen Feind, ob ich es auflas wie einen falschen Freund, ob es mir durch Auge, Nase, Ohr kroch wie ein delinquenter Floh, ein komischer oder kosmischer Traum, ein Stolpern im Raum, eine präuterine Melodie auf  Reisen, eine Zeile, die da war, von der ich nicht erinnern konnte, sie je gelesen zu haben – what does it matter! Die Übersetzung ist ja eben nicht ein verdautes Original, wohl aber das Original eine verdaute Übersetzung. Und woher ‚das‘ alles kommt, was in sie einging – ob sie es aß wie einen Feind, ob sie es auflas wie einen falschen Freund, ob sie ihr durch Auge, Nase, Ohr kroch wie ein delinquenter Floh, ein komischer oder kosmischer Traum, ein Stolpern im Raum, eine präuterine – you get the point. Fort mit der Dichotomie der kannibalistischen Idee als Übersetzermetapher, sie bietet nur zwei Rollen, Fressen und Gefressen werden, „Tupi or not tupi“ (oder Milch von wessen Titty?) – lieber nehm ich die zahlreichen Fadenrollen von Lygia Clark, ein Handeln, das Konstellationen gebiert. Zwar ist Übersetzen oft ein solitäres und verzweifeltes Unterfangen beim Ringen um den richtigen Klang, das richtige Wort, doch kennen gewiss viele Übersetzer·innen auch den Moment, bei dem man sich bei dieser Suche vervielfältigt, halluziniert, mehrere luzide Sprachgarne gleichzeitig zwischen den Zähnen hervorholt und dabei zuweilen nicht mehr sicher ist, aus welcher Sprache sie stammen, Ziel- oder Ausgangs-, Mutter- oder Stotter-, Spucke- oder Baba/Babbel. Als würde man beim Übersetzen beständig selbst übersetzt in eine Sprache, die der eigenen sehr ähnlich, aber dennoch unbekannt und unbewusst kollektiv ist. Und das heißt nicht, auf etwas Blut und Leid verzichten zu müssen. Mary Carter berichtet davon, wie die Spule in ihrem Mund, je schneller sie versucht, den Faden herauszuziehen, ihr Zahnfleisch aufreibt: „I could feel my gums beginning to bleed as they were hit continuously by the spool. The sound of the spool clomping against gums and teeth was the most curious sound—like horses’ hooves clopping, but quieter and with a slight echo.“ Das schmerzhafte Abspulen eines Fremdkörpers aus dem eigenen Mund: Auch diese Seite des Übersetzens kenne ich, sie gehört dazu. Genauso wie das superbe Scheppern winziger, unsichtbarer Hufe im Mund – ob ich die dazugehörigen Pferde nun einverleibt habe oder auch nicht, sie im nächsten Moment säugen werde, oder auch nicht.

27.02.2024
Fußnoten
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©Alberto Novelli

Uljana Wolf, 1979 in Berlin geboren, studierte Germanistik, Kulturwissenschaft und Anglistik und lebt als Lyrikerin und Übersetzerin in Berlin. Ihre Gedichte wurden in Zeitschriften und Anthologien unter anderem in Deutschland, Polen, Weißrussland, Ungarn, Bulgarien, Irland, Italien, Schweden und den USA veröffentlicht. Es erscheinen die Gedichtbände „kochanie ich habe brot gekauft“ 2005, „falsche freunde", 2009; gemeinsam mit Christian Hawkey - die Sonett-Ausstreichungen „Sonne From Ort“, 2012. Daneben veröffentlichte sie den Essay „BOX OFFICE“, 2010 und zahlreiche Lyrikübersetzungen, vor allem aus dem Englischen. Sie erhielt unter anderem den Peter-Huchel-Preis, die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik des Übersetzens 2019, und ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds und der Villa Aurora in Los Angeles. Für den Band von Essays und Reden „Etymologischer Gossip“ wurde sie 2022 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

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