TALKS RundUmschau „Es bleibt genau ein Wort, um den Satz zu beenden“

„Es bleibt genau ein Wort, um den Satz zu beenden“

Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts verbrachte ich als Jugendlicher in Qazvin, einer Kleinstadt zwei Stunden von Teheran entfernt. Ich hatte gerade die Welt der Bücher für mich entdeckt und dachte, dass niemand mich versteht (fairerweise muss man dazu sagen, dass sich die meisten Menschen rückblickend auf diese Weise an ihre Jugendjahre erinnern) und die Geschichten berührten in mir nie gekannte Stellen. Im Souterrain eines Hauses in unserer Kleinstadt wurde eine relativ große Buchhandlung eröffnet – vielleicht die zweite Buchhandlung im Ort, die nur Bücher und keine Schreibwaren oder Lehrbücher führte – in der ich zwei, drei Mal pro Woche nach der Schule ein, zwei Stunden verbrachte. Manchmal kam es vor, dass Bücher mehrere Jahre im Regal standen, ohne dass jemand sie herausgenommen hätte. Dort stieß ich zum ersten Mal auf „Der Fänger im Roggen“, „Schall und Wahn“, „Billy Bathgate, „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“, schlecht übersetzte Ausgaben von „Die Fahrt zum Leuchtturm“ sowie auf die „Neun Erzählungen“ von Salinger, wobei ich keine Ahnung habe, wie es zu dem Titel „Die blaue Periode des Herrn de Daumier-Smith“ gekommen war. Immer mal wieder, wenn ein paar Bücher verkauft waren und sich in den Regalen Lücken auftaten, fuhr der Buchhändler nach Teheran und fügte den Regalen ein paar neue Exemplare hinzu. Die Namen der Autor·innen waren für mich ebenso geheimnisumwoben und faszinierend wie die Namen der Übersetzer·innen. Zu jener Zeit trat eine neue Generation von Übersetzer·innen in Erscheinung, die sowohl ältere als auch zeitgenössische Werke übersetzten. So kam es, dass ich beliebig einzelne (weniger zensierte) Bücher von Nabokov gelesen habe, ohne zu verstehen, warum „Lolita“ nicht verlegt wurde. Ohne Borges zu kennen und ohne zu wissen, dass sein erster Übersetzer Ahmad Mir-Alaei zehn Jahre zuvor von der Regierung ermordet worden war, las ich „Sechs Aufgaben für Don Isidoro Parodi“. Ich habe Paul Auster und Vonnegut gelesen, ohne genau zu wissen, was Postmodernismus eigentlich ist.

Später lernte ich diese neu in Erscheinung getretenen Übersetzer·innen kennen und verstand, dass sie das Produkt einer kulturellen Öffnung waren, die sich infolge der Wahlen 1997 auftat, nachdem die Reformisten die politische Bühne betreten hatten. Einige junge Leute schafften es, in den Zeitungen Literaturseiten zu etablieren. In den großen Zeitungen wurde nun Platz dafür eingeräumt und in der Hoffnung, etwas zu bewirken, versuchten sie eilig, manchmal auch etwas übereifrig, der persischen Leserschaft jedes nur erdenkliche Puzzleteil der Weltliteratur nahe zu bringen. Jene Generation und die Neuauflagen von Büchern der vorigen Übersetzer·innengeneration ebneten meinen Zugang zur Literatur; ein Leuchtturm in dem Meer, in dem ich halt- und orientierungslos trieb.

Es bleibt genau ein Wort, um den Satz zu beenden.1

Von dieser Generation beeinflusst, schloss ich mich Jahre später der Gruppe von Übersetzer·innen und Schriftsteller·innen an, die eine Nische in den Buchhandlungen für sich eingenommen hatten, Bücher schrieben und übersetzten, in der Hoffnung, dass ein·e Leser·in sie, vielleicht in irgendeiner kleinstädtischen Kellerbuchhandlung, finden und durch sie in sich auf bislang unentdeckte Orte stoßen könnte. Ein paar Jahre nach der Grünen Bewegung von 2009 und deren Unterdrückung, wurde ich, gerade auf der Bildfläche erschienen, Übersetzungsredakteur der damals im Iran sehr populären Literaturzeitschrift „Dastan“ und begann mit Übersetzer·innen zusammenzuarbeiten, die ich bislang nur aus meiner Lektüre kannte. Ich muss gestehen, dass das eine ziemlich schockierende Begegnung war. Zu einigen gab es gar keine Informationen und nur mit Mühe konnte ich eine Telefonnummer oder Email-Adresse ausfindig machen. Viele von ihnen hatten Iran verlassen und waren im Exil damit beschäftigt, mit irgendwelchen Jobs so einigermaßen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Einige versuchten immer noch hartnäckig, Bücher zu finden, die weniger zensiert waren. Einige arbeiteten träge und eher zum Zeitvertreib und hatten keinen allzu großen Antrieb, entschlossen weiterzumachen. Einige hatten sich sehr zurückgezogen und führten irgendwelche Entschuldigungen an. Es war, als ob nach der Unterdrückung der Grünen Bewegung dieser Enthusiasmus für Veränderungen, dieser Glaube an die Literatur und das Wort verschwunden wären oder zumindest eine andere Form angenommen hätten. Literarische Gemeinschaften wurden aufgelöst, an ihre Stelle traten Enttäuschung und Rückzug. Bücher wurden nicht mehr genehmigt. Jeder hatte einige Bücher, die irgendwo im Zensurapparat der Islamischen Republik feststeckten. Niemand war mehr in der Stimmung oder hatte die finanziellen Mittel, um weiterzumachen. Menschen, die früher zusammenkamen, um Bücher aus dem europäischen Ausland zu lesen, sich darüber auszutauschen, sie gemeinsam zu übersetzen und über sie zu schreiben, verstreuten sich im Laufe weniger Jahre in sämtliche Winkel der Welt oder ihrer Wohnungen.

Ich hatte natürlich schon davon gehört, ich nahm die Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit wahr, ich fühlte die Enttäuschung und den Rückzug, aber die Tragweite der Sache war mir nicht bewusst. Ich war ein junger, aufstrebender Mann, der dachte, dass die Literatur unter allen Umständen ihren Weg finden wird, dass das Leben immer irgendwie weitergeht, dass man mit der Zensur und der Nichtveröffentlichung seiner Werke zurechtkommt und dass ich, was auch immer passiert, mithilfe eines dicken Fells und Erfahrungen, viele Jahre treu ergeben schreiben und übersetzen würde.

Eine der Bitterkeiten des Alltags im Schatten einer totalitären Regierung ist, dass jede Generation im Laufe ihres Lebens mindestens eine Form der Unterdrückung erlebt. Jeder individuelle Gedanke, egal wie bescheiden oder abwegig, wird mindestens einmal allein schon deshalb beschnitten, weil er seine Individualität bewahren will. Für mich und meine Generation, die zur Zeit des Iran-Irak Kriegs geboren wurden (Ende der 1980er Jahre) und die wir unsere Jugend in einer verhältnismäßig liberalen Zeit der Reformen verbracht haben, war die Unterdrückung der Grünen Bewegung 2009 und die Jahre voller Blutvergießen seit 2019, begleitet von einem Funken Hoffnung und anhaltender Verzweiflung, der erste Schlag. Es ist eine bittere Realität, dass nach jeder Unterdrückung solch einer Bewegung – zuletzt der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ – Gewalt und Unterdrückung um ein Vielfaches zunehmen, der Spielraum für Kultur eingeschränkt wird und die Übersetzer·innen sich Gedanken machen müssen, was sie arbeiten können. Das ist ein Kreislauf, der bereits vor der Revolution 1979 begann und sich seither mehrfach wiederholt hat.

Jetzt sind viele meiner Kolleg·innen und ich wieder an diesem Punkt angelangt. Einerseits sehe ich im Geiste jenen Jugendlichen in einer kleinstädtischen Buchhandlung, der sich der Zensur und der Unterdrückung von Intellektuellen nicht bewusst war, und für den nur Bücher zählten, auf der anderen Seite sehe ich den Zensurapparat, der komplex, unberechenbar und demütigend ist. Auf der einen Seite gibt es die moderne Welt, in der es immer mehr inoffizielle Wege zur Veröffentlichung gibt. Auf der anderen Seite gibt es ein System, das Übersetzer·innen sanktioniert, wenn sie Werke übersetzen, die der Regierung missfallen. Selbst wenn es sich nicht um inoffizielle Veröffentlichungen handelt, können sie aufgesucht, angeklagt und mit Schreibverboten belegt werden. Einerseits gibt es die junge Generation, die in Bezug auf die Zensur optimistischer ist als ich, und die über das Internet einen besseren Zugang zu Originalliteratur hat und deren Lesefähigkeiten, zumindest auf Englisch, sich verbessert hat. Andererseits ist es wichtig, den Denkfluss in persischer Sprache zu erhalten und hierfür sind Übersetzungen ein wesentlicher Bestandteil. Das bedeutet also, dass es für dieses Problem keine Lösung gibt.

Fest steht jedoch, dass die Worte weiter fließen und Bücher weiter ihren Weg finden werden, dass der Kreislauf von Hoffnung und Verzweiflung nicht enden wird, und dass wir weiter kämpfen werden – auf den Straßen, in unseren Häusern, in Word-Dateien und in Worten – denn sie sind unsere stärksten Waffen.

02.02.2024
Fußnoten
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©privat

Moeen Farrokhi ist ein iranischer Schriftsteller und Übersetzer. Seine Werke in Farsi umfassen zwei Kurzgeschichtensammlungen, Der reine Schnee (Verlagshaus Cheshmeh 2016) und Künstliche Träume (Publikationsverbot), und den langen Essay Eine vermeintlich unpolitische Erzählung eines politischen Ereignisses: Die Wahl im Iran 2017 (Verlagshaus Cheshmeh 2018). Er hat die Werke von David Foster Wallace und Zadie Smith ins Farsi übersetzt. Seine jüngste Übersetzung von David Foster Wallaces Infinite Jest erschien im Januar 2024.

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