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Die Krym ist in der Ukraine

Wenn von Vielfalt in der Ukraine die Rede ist, hat man zumeist zwei Sprachen im Blick: das Ukrainische und das Russische. Das ist natürlich nicht nur eine Folge historischer Entwicklungen, sondern hängt auch mit der längsten Grenze in Europa zusammen: Die sage und schreibe 2295 Kilometer lange Grenze zu russland macht die Ukraine anfällig für sprachliche Einflüsse des Nachbarn. Die Grenze zu Rumänien und der Gebrauch des Rumänischen in der Bukowina, die Grenze zu Ungarn und die ungarische Minderheit in Transkarpatien oder auch die selbstverständliche Beherrschung des Polnischen, und sei es auch nur auf Alltagsniveau, in der Westukraine, dem früheren Ostgalizien, werden dabei häufig vergessen.

Seit März 2014, als russland die Krym annektierte, ist die Sprache der angestammten Bevölkerung auf der Halbinsel Qırımtatar tili, das Krymtatarische, mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Auch Nichtphilologen interessieren sich plötzlich dafür, einzelne Wörter wie Meclis, das krymtatarische Parlament, oder Qurultay, die Nationalversammlung der Krymtataren, haben Eingang in den Wortschatz der Ukrainer gefunden und bedürfen keiner Erklärung mehr. In der Kultur ist die Krym zu einem zentralen Thema geworden, vor zehn Jahren hat der Regisseur Achtem Seitablajew seinen ersten Spielfilm präsentiert, gleichzeitig ist Qaytarma (Dt. Rückkehr) der erste krymtatarische Film über ein überaus tragisches Kapitel in der Geschichte der Krym, die Deportation der Krymtataren im Mai 1944. Diesem Thema war ebenfalls Jamalas Lied beim Eurovision Songcontest 2016 in Stockholm gewidmet, mit dem sie gewann. Die Visualisierung der Erinnerung an diese nationale Tragödie gehört auf den Straßen der ukrainischen Städte heute zu einer Selbstverständlichkeit.

Im ukrainischen Bewusstsein war die Krym zuallererst folkloristisch verankert – als Reisen der Tschumaken – so wurden die ukrainischen fahrenden Händler genannt – auf die Krym um Salz. In der Sowjetzeit galt die Krym mehr oder weniger ausschließlich als russifizierter Urlaubsort, die im Jahr 1944 deportierten angestammten Bewohner der Krym konnten erst Ende der 1980er Jahre in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete zurückkehren. Deswegen ist die Initiative des Krymtataren Alim Alijew, eines jungen Menschenrechtlers, Politologen und Journalisten, eine Plattform für den ukrainisch-krymtatarischen Kulturdialog zu gründen, so bedeutsam. Der von Alijew 2018 ins Leben gerufene Wettbewerb für Literatur und Übersetzung Qırım inciri (Dt. Krymfeige) brachte zum ersten Mal ukrainische und krymtatarische Autor·innen einander näher, indem er sie anregte, Texte zu schreiben und sich gegenseitig zu übersetzen. Er wurde zu einem wirksamen Mittel der Stärkung der intellektuellen Beziehungen zwischen Festland und Halbinsel, einer tatsächlichen Schmiede für die Renaissance der krymtatarischen Literatur, der Literatur über die Krym und einer Literatur auf Krymtatarisch.

Ungefähr in dieser Zeit des erwachenden Interesses am Krymtatarischen in der ukrainischen Gesellschaft schrieb die Mitbegründerin und Kuratorin des Wettbewerbs Krymfeige Anastasija Lewkowa an einem großen „Krymroman“, der im vergangenen Jahr unter dem Titel Hinter Perekop liegt Land erschien. Der Roman wurde 2023 zu einem der wichtigsten literarischen Ereignisse in der Ukraine.

Es ist ein Entwicklungsroman, ein Roman über die Suche nach Identität und nicht zuletzt ein Bildungsroman über die Geschichte, die Kultur und die Lebenswelt der angestammten Bewohner der Krym. Der Text weist eine für ein belletristisches Werk äußerst hohe Anzahl von Anmerkungen auf. Jeder der drei Teile enthält etwa 50 Fußnoten der Autorin, in denen bestimmte Phänomene, Wörter, Persönlichkeiten, historische Ereignisse erläutert und Übersetzungen von Ausdrücken eingefügt werden. Die Autorin flicht zahlreiche Passagen auf Krymtatarisch ein und lenkt so die Aufmerksamkeit auf die Existenz und den Reichtum der Sprache.

Wir sollten nicht vergessen, dass das Krymtatarische infolge der Deportation der Krymtataren zwischen dem 18. und 21. Mai 1944 und der aggressiven Russifizierung der Halbinsel, die bereits während der ersten Besetzung der Krym im 18. Jahrhundert einsetzte, eine große Anzahl von Sprecher·innen verloren hat. Nach der UNESCO-Klassifizierung von 2010 ist das Krymtatarische vom Aussterben bedroht.

Durch die konsequente Verwendung ukrainischer Übersetzungen von transkribierten krymtatarischen Wörtern und Sätzen erleichtert Anastasija Lewkowa den Leser·innen die Rezeption der fremden Sprache. Das Prinzip der parallelen Notation einzelner Ausdrücke in zwei Sprachen wird bereits in den Kapitelüberschriften des Romans deutlich, in denen der Titel auf Krymtatarisch in der kyrillischen Version angegeben wird und die nächste Zeile in Klammern die ukrainische Übersetzung enthält.

Auf die Frage, woher sie diese Methode habe, führt Anastasija Lewkowa den Klassiker der krymtatarischen Literatur Aydın Şemizade an, den sie vor einigen Jahren gelesen hat. Der Autor, der 1944 als Kind nach Usbekistan deportiert wurde, verbrachte den größten Teil seines Lebens in Moskau und schrieb seine Bücher auf Russisch. In seinem bekanntesten Werk, der Trilogie Fäden menschlicher Schicksale, fügt er viele Sätze auf Krymtatarisch ein, wobei er die russische Übersetzung in Klammern dahinter setzt. Demselben Prinzip folgen die Texte im Wettbewerb Krymfeige. Diese Technik, die zunächst etwas befremdlich wirkt, fasziniert schon nach den ersten parallel dargebotenen Sätzen und regt dazu an, die Ausdrücke in der fremden Sprache laut zu lesen. In etlichen Kommentaren zu Lewkowas Roman habe ich den Wunsch gelesen, nach der Lektüre des Textes Krymtatarisch zu lernen.

Bei einigen krymtatarischen Wörtern und kurzen Wendungen setzt die Autorin Fußnoten. In der allerersten Fußnote des Romans auf der ersten Seite des Buches erklärt sie den Leser·innen ihre Absicht. Die für einen literarischen Text relativ lange Erläuterung erklärt die Einfügung krymtatarischer Wendungen in den Text, wobei die Ausdrücke entweder im Text in kyrillischem Alphabet erscheinen und übersetzt werden oder in einer Fußnote in einer doppelten Transkription angeführt werden: kyrillisch und lateinisch. In diesem Fall sehen die Fußnoten wie folgt aus: Аш татлы олсун! Aş tatlı olsun! (krymtararisch) смачного! (Dt. Guten Appetit!). Es ergibt also die Folge: kyrillische Transkription – lateinische Transkription – ukrainische Übersetzung. Darüber hinaus finden sich auch philologisch korrekte Fußnoten mit Angabe der Pluralform: эв, ev (Plur. эвлер, evler) (krymtatarisch) – будинок, дім (Dt. Haus). Für diese komplizierte Darstellung mit zwei Transkriptionen gibt es eine Erklärung.

Ich versuche, die Erklärung so kurz wie möglich zu halten. Dabei ließe sich über das Schriftsystem des Krymtatarischen ein eigener Artikel verfassen, so verworren ist seine Genese. Und zugleich so charakteristisch für kolonisierte Völker und Sprachen. Ursprünglich verwendeten die Sprecher·innen des Krymtatarischen die arabische Schrift. Es existieren krymtatarische Schriftzeugnisse aus dem 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. In der Sowjetunion wurde 1928 das lateinische Alphabet eingeführt, das jedoch bereits zehn Jahre später durch das kyrillische Alphabet in Anlehnung an das russische ersetzt wurde. In der unabhängigen Ukraine, in der Autonomen Republik Krym, begann in den 1990er Jahren ein schrittweiser Übergang zum lateinischen Alphabet, das auf dem Türkischen basiert. Seit 2015 verbietet russland die Verwendung des lateinischen Alphabets auf der seither besetzten Krim. Die Änderungen im Schriftsystem haben zu einer parallelen Verwendung des kyrillischen und lateinischen Alphabets geführt. Während der Besetzung der Krym ist es wichtig, dem nicht-sowjetischen Alphabet den Vorzug zu geben und damit einen Versuch zu unternehmen, sich zumindest visuell von der Dominanz der russischen Sprache zu lösen.

Obwohl Anastasija Lewkowa in der ersten Fußnote zu ihrem Roman auf den repressiven Charakter der Einführung des kyrillischen Alphabets als Schriftsystem des Krymtatarischen verweist, verwendet sie im Roman Hinter Perekop liegt Land dennoch die kyrillische Transkription, vor allem um die visuelle Fremdheit des lateinischen Alphabets im ukrainischen kyrillischen Text zu vermeiden. Denn auch den Krymtataren ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt das kyrillische Alphabet vertrauter und wird von ihnen überwiegend verwendet. Was mich persönlich für das kyrillische Alphabet im Roman einnimmt, ist, dass es unsere Sprachen, obwohl sie unterschiedlichen Sprachfamilien angehören, auf unerwartete Weise miteinander verbindet und es den ukrainischen Leser·innen erleichtert, auf die Krymtataren zuzugehen.

02.02.2024
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©Andrea Scrima

Chrystyna Nazarkewytsch, geboren 1964 in Lwiw, übersetzt deutschsprachige Prosatexte (Terezia Mora, Jenny Erpenbeck, Ilma Rakusa u.a.), Lyrik (Andra Schwarz, Marion Poschmann, Daniela Danz u.a.), Theaterstücke (Anja Hilling, Ulrich Hub, Mehdi Moradpour u.a.) ins Ukrainische. 2023 wurde sie als eine von fünf Preisträger·innen mit dem Straelener Übersetzerpreis ausgezeichnet.

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