Von Schranken und Überschreitungen
Ein Mosaik mit anthropophagischen Motiven
Auf weißem Hintergrund ist der Schmutz am besten zu sehen, so heißt die Installation der Künstlerin Antanina Slabodchykava. Inmitten des Ausstellungsraumes ein langer Tisch, gedeckt mit weißer Tischdecke, auf weißem Geschirr ausschließlich weiße Lebensmittel – getrennt von Zuschauer·innen durch einen Glaskasten, wird die festliche Tafel in den folgenden Wochen zum Schauplatz der Verwesung: Die Lebensmittel verschimmeln, vergammeln, verfaulen, vermodern. Jetzt wird nichts anderes als Verfall auf den weißen Platten serviert, Würmer, Maden und Insekten schlagen zu.
Die Installation führt vor Augen, was mit jeder Materie, auch mit unseren Körpern, passiert, wie auch immer wir das zu verbergen versuchen. Sie zeigt aber auch, dass verglaste, auf Sauberkeit bedachte und Reinheit zelebrierende Systeme nicht nur wie alles andere dem Verfall ausgesetzt sind, sondern diesen sogar noch sichtbarer machen.
Als geschlossenes, auf Reinheit bedachtes System kann letztlich jedes Denk-, Ideen- oder sozialpolitisches System angesehen werden, das nur mit einer unhinterfragbaren Erklärung an die Realität herangeht und das Andere, Unpassende, Erschreckende ausblendet, zum Beispiel durch eine stigmatisierende Benennung, die jede weitere Auseinandersetzung, jedes Bemühen ums Verstehen ausschaltet. Die gegen eine Diktatur Protestierenden werden etwa als Außenseiter, Drogensüchtige, Prostituierte oder Extremisten abgetan. Die Kolonisierten werden als Kannibalen erzählt. Das Unfassbare, das Schranken Aufbrechende wird benannt und gleichzeitig dekoriert, heraufbeschworen und sofort isoliert, in einen Kasten gedrängt, wo es angeschaut, aber nicht berührt wird. Und das Paradox besteht darin, dass gerade solche Systeme oft Menschenfresser sind, die ihre Reinheit, Auserwähltheit und ihren „besonderen Weg“ oder „traditionelle Werte“ wie eine Monstranz vor sich hertragen.
Das Bild des Kannibalen, das von Mythen bis zu modernen Computerspielen immer wieder Hochkonjunktur erlebt, markiert eine scheinbar klare und unüberwindbare Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei, Rationalität und Wahnsinn, zwischen funktionierender und entgleister Menschlichkeit. Der Kasten scheint hermetisch. Und gerade hier setzt der berühmte Anthropophage, der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade (1890-1954) sein Anthropophagisches Manifest an, das wie folgt beginnt:
Nur die Anthropophagie vereint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch.
Einziges Gesetz der Welt. Maskierter Ausdruck jeglicher Individualismen, jeglicher Kollektivismen. Jeglicher Religionen. Jeglicher Friedensverträge.
Tupí or not tupí that is the question. Gegen alle Katechesen. Und gegen die Mutter der Gracchen.
Mich interessiert nur, was nicht mein ist. Gesetz des Menschen. Gesetz des Anthropophagen…1
Der hermetische Kasten bleibt zwar geschlossen, aber plötzlich sind Übergänge und Positionswechsel möglich: Man ist gleichzeitig draußen und drinnen, man schaut auf das radikal Andere und ist es selbst.
Oswald de Andrade zerbricht in diesem Manifest die Monolithen der Ideensysteme in einzelne Stücke und setzt daraus ein Mosaik2 zusammen, das kein festes Bild abgibt, sondern ständig dazu zwingt, neue Muster zu entdecken, neue Perspektiven einzunehmen, Verschiedenes in sich aufzunehmen, auch Fremdes einzuverleiben, ja, auch das Risiko eingehend, dass es einer schwindelig oder übel wird.
Der Begriff der Anthropophagie eignet sich für so eine Einladung zum Überwinden der gewohnten Denkschranken bestens, nicht nur, weil es eine in Selbstermächtigung umgekippte Zuschreibung3 ist, sondern auch, weil die Anthropophagie als Erfahrung auf sinnlicher Ebene doch für die allermeisten unvorstellbar bleibt, wenngleich metaphorisch im Alltag präsent. Auch hier sind wir gleichzeitig drinnen und draußen. Jemanden zum Fressen gern haben, süß sein und Ähnliches gehört zum ständigen Repertoire der Zärtlichkeiten. Und trotzdem bleibt die Anthropophagie unvorstellbar. Und genau dieses Ausharren an der Grenze des Vorstellbaren, das Auskosten des Unvorstellbaren macht die Übung im Verlassen gewohnter Denkbahnen aus.
Dazu kommt, dass gewisse Komponenten der Anthropophagie, wie etwa die Macht über den Anderen, das Verschlingen und Einswerden mit dem Anderen, die Verletzbarkeit der Grenzen sowie die radikale Hingabe und Aufnahme unserer Vorstellung gar nicht fremd sind. Wir sehen das, was uns als Menschen ausmacht, wie in einem Vergrößerungsspiegel, was uns sowohl auf die eigene Existenz als auch auf die Co-Existenz mit den Anderen zurückwirft.
Dieses Vergrößerungspotenzial des Anthropophagiebildes benutzt der belarusische Regisseur Jura Dziwakou in seiner Inszenierung von Das Hohelied von Salomon. Auch hier ist ein großer Tisch, dem aus der Installation von Slabodchykava nicht unähnlich, das zentrale Element der Bühnenkomposition. Ein Hochzeitstisch und eine Gedenktafel zugleich, einer, auf dem sich Begierde und Tod begegnen. Am Kopf des Tisches eine Frau, die ihren Geliebten beschwört, während er als Projektion auf der Leinwand in ihrem Rücken zu sehen ist, mit sich selbst beschäftigt, sich selbst bewundernd. Sie werden sich treffen: vollkommen nackt kommt er am Ende des Liedes in den Raum und schießt auf sie, worauf sie sich erhebt, mit Dornenkrone und in Netzgewand, und ihn mit ihren Innereien füttert, die er leidenschaftlich verschlingt, sich ihr annähernd. Erst dann findet eine Berührung statt und das Lied beginnt von vorn.
Das Hohelied von Salomon, Regie: Jura Dziwakou, 2019.
Diese Aufführung, die in Minsk 2019 gespielt wurde, wäre heute in der belarussischen Hauptstadt undenkbar. Und das nicht nur, weil der Theaterraum OK16 nicht mehr existiert – er gehörte dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten, der heute für viele Jahre im Gefängnis eingesperrt ist –, sondern weil so ein Schranken überschreitendes Nachdenken über die menschlichen Beziehungen in einem erstarrten diktatorischen System nicht erwünscht ist. Ein auf sich selbst zurückgeworfener Mensch ist hellhörig und ungehorsam, er ist lebendig und für ein diktatorisches System gefährlich. Deswegen mischt sich eine Diktatur in die intimsten Lebensbereiche ein, keine Grenzen werden respektiert, der Mensch soll über nichts mehr frei verfügen können, sondern wird vom System ganz einverleibt werden.
Es bleibt nur zu hoffen, dass nach dem Zusammenbruch des menschenfressenden Systems wieder Künstler·innen gefragt sein werden, für die die Kunst eine Art Daseinslabor ist, wie es in der Wendezeit in Belarus der Fall war. Stellvertretend für diesen Aufschwung der Kunst sei die Bewegung Bum-Bam-Lit genannt. Die Vertreter·innen dieser Bewegung erprobten die physischen und semantischen Dimensionen des Menschseins auf vielerlei Art und Weise: Von Bezug zu schamanistischen Praktiken indigener Völker über die Tabubrüche im Umgang mit dem Tod bis hin zu neuen Grenzziehungen in Fragen, was Kunst ist und was Kunst kann. Die Bum-Bam-Lit-Bewegung brach das enge Korsett des sowjetischen Kunstverständnisses, dabei war die Überschreitung ihr wichtigstes Instrument.4
Es benötigt wohl unbedingt einer Überschreitung, damit ein erstarrtes System in Bewegung kommt. Auch Artur Klinau verwendet in seinem Roman Lokisau (2020), der viele Entwicklungen der belarussischen Revolution 2020 prophezeit hat, eine anthropophagische Überschreitung. An einem Ort werden regelmäßig Menschen von dem Werbär Lokis, einem Menschen, der sich in einen Bären verwandeln kann, gefressen. Wer er ist, weiß niemand. Und so lebt der ganze Ort in Angst, das kann der Nachbar, die Frau oder sonst jemand sein. Bei der letzten Gefressenen, der Supermarktkassiererin Sina, fällt der Verdacht auf einen Fremdling, den Künstler Lokisau, der an den Rand der Welt kommt, um sich zurückzuziehen. Die Zuschreibung eines Menschenfressers bestimmt nun das Leben des Künstlers. Wie in Revisor von Nikolai Gogol lernt er die lokalen Eliten kennen: Einer nach dem anderen kommen sie zu ihm, um sich zu retten. Der Schuldirektor, ein Expat aus Russland, der mit der neuen Heimat nicht warm wird, bietet zum Beispiel an, eine Liste zusammenzustellen, wer auf keinen Fall gefressen werden darf und wer unter bestimmten Umständen doch. Eine Parabel über das Überleben, den vorauseilenden Gehorsam und den (gescheiterten) Widerstand in einem von Angst beherrschten System.
Auszug aus Lokisau von Artur Klinau, gelesen von Ales Malczanau.
Übersetzung ins Deutsche von Ruth Altenhofer
Wir können uns die Anthropophagie als Außenpol auf folgender Skala vorstellen: An dem einen Pol ist die ausbleibende Berührung, die Erstarrung, am anderen das physische Verschlingen, die Einverleibung. Zwischen diesen zwei Gefahren müssen wir überleben, zwischenmenschlich, politisch, kulturell. Als einen der Überlebensmodi können wir die Übersetzungskunst, die übersetzerische Haltung im Allgemeinen denken: Berührung mit dem Ziel, dem Anderen Raum zu geben, Annäherung mit dem Ziel, nicht zu besitzen, sondern zu verstehen, Aufnahme mit Respekt vor Grenzen, Einverleibung ohne Zerstörung.
Titelbild: Jura Dzivakou: Geborgenheit, Zeichnung aus der Reihe Existentielles ABC, 2018