Vom Genießen des Artgenössischen – ein Fetzenbild (Flesh fiction)
Anthropophagie – wie abseitig, denke ich, kommt in meiner Lebens- und Lesenswelt doch nicht vor. Aber wie das so ist: Kaum mit der Nase auf diesen Begriff gestoßen, weicht die Abscheu einer wachsenden Faszination, geschürt von den so anregenden wie lehrreichen Essays dieser tupistischen Reihe, die immer neue Aspekte ans Licht bringen. So breit das Spektrum, so groß die Ambivalenz: Je nach Kultur und Epoche, Religion, Tradition, Fiktion, Kolportage oder Propaganda kann sie alles sein, letztes Tabu oder ultimativer Liebesbeweis, Fremdenabwehr oder „radikale Gastfreundschaft“1, koloniale Zuschreibung oder emanzipatorische Wiederaneignung, Würdigung eines Gegners, dessen Mut und Kraft man sich einverleiben möchte, oder Ehrerbietung gegenüber den Ahnen, wenn man nach dem Tod eines Angehörigen einen Teil in sich aufnimmt und ihn so fortleben lässt. Wenn, wie beim kannibalischen Übersetzen – der von Melanie Strasser angeführten „Transluziferation“ – Tilgung und Schöpfung in eins fallen, ist das für eine Übersetzerin zunächst eine durchaus reizvolle Vorstellung, denn sie evoziert vollkommene Freiheit.
Nur dass ich, ähnlich wie Uljana Wolf, keine Gewalt anwenden will und kann, beim Übertragen. Eine Zermalmung findet nicht statt. Und das nicht zuletzt, weil ich – als heutige europäische Übersetzerin aus zwei großen Kolonialsprachen ins Deutsche – einen ganz anderen Hintergrund und Standpunkt habe als ein Oswald de Andrade, auch eine andere Verantwortung. Aber ich kann mich von ihm und allen, die er beeinflusst hat, inspirieren lassen, wenn ich mir – je nach Herkunft, Inhalt und Form meines Ausgangstextes – die eigene eurozentrische Prägung bewusst machen und mehr oder weniger abschütteln muss, um mich dem anderen Text so offen, so unvoreingenommen, und ja, so durchlässig wie möglich nähern zu können. Eben: eine Annäherung, möglichst hellhörig, feinfühlig und scharfäugig, aber keine Durchkauung, Verschlingung und Zersetzung.
Was mich nach wie vor, oder jetzt erst recht interessiert, ist die Anthropophagie als eine Art Universalschlüssel zum Weltverständnis, ihre vielen Spielarten in der Menschheits- und Kulturgeschichte, ihre Instrumentalisierung, Konstruktion und Dekonstruktion, ihre Wiederkehr in den verschiedenen Kunstgattungen, ihr Anstoß zu theoretischen Überlegungen. Denn sobald man anfängt, darauf zu achten, stellt man fest: Sie lauert überall, in ganz unterschiedlichen, widersprüchlichen Formen, in Anspielungen, Spiegelungen und Verzerrungen, archaisch-archetypisch oder avantgardistisch, infernalisch oder utopisch. Sie kann zur Bestimmung der eigenen Position beitragen, nicht nur im Hinblick auf übersetzungstheoretische Fragen. Und sie entpuppt sich bei näherer Betrachtung der Weltgeschichte als mächtiges Instrument der Verfemung.
Back to the Roots
Während das Wort Anthropophagie selbsterklärend ist, selbst wenn man kein Altgriechisch beherrscht, ist Kannibalismus, oft und gern als Synonym gebraucht, ziemlich opak. Ein Blick auf die Etymologie lohnt aber, denn sie klärt über ein Missverständnis2 auf, dem viele weitere folgen sollten, bedingt durch uralte Vorurteile und der Absicht, andere gewinnbringend zu diskreditieren:
Das Wort „Kannibalismus“ geht auf die Kariben, die Ureinwohner der Westindischen Inseln, zurück. Als Kolumbus auf seiner ersten Reise vor der Insel Hispaniola ankerte, notierte er in seinem Logbuch am 14. November 1492, dass die Einwohner dieser Insel in steter Furcht vor den „Caniba“ oder „Canima“ lebten, den angeblich einäugigen, hundsgesichtigen und menschenfressenden Einwohnern der Nachbarinsel Bohío. […] Was Kolumbus als Caniba oder Canima vernahm, war die Eigenbezeichnung dieses Indianervolks, die ursprünglich soviel wie „tapfer“ bedeutete (vgl. Tupi caryba, „Held“); da in ihrer Sprache die Laute l, n und r als Allophone variieren, ist es durchaus möglich, dass Kolumbus das Gehörte recht lautgetreu wiedergab. Während sich die Bedeutung der Variante caribe bzw caribal im spanischen Sprachgebrauch zur Bezeichnung der Bewohner der Küsten der Karibik verengte, erlangte canibal die Bedeutung „Menschenfresser“ und verbreitete sich so in viele europäische Sprachen; im Deutschen ist es 1508 erstmals bezeugt.3
In dieser Definition steckt wie in einer Nußschale bereits die ganze Kalamität des Kolonialismus. Und so schnell werden aus tapferen Helden gefürchtete Monster in exotisierten Gefilden. Eine Wortneuschöpfung mit Vernichtungspotenzial – darüber kann ich als Übersetzerin gar nicht lange genug nachdenken. Und wäre fast versucht, den Kannibalismus für reine Fiktion zu halten und ins Reich der ewig produktiven Mythen zu verweisen, hätte die Wissenschaft inzwischen nicht eine gangbare Schneise durch das Dickicht aus Projektionen und Legenden geschlagen. Es ist also – wieder einmal – komplizierter, wie die Ethnografin Heike Behrend in „Menschwerdung eines Affen“ konstatiert:
1979 hatte der Ethnologe William Arens in seinem Buch The Man-Eating Myth den Kannibalen für tot erklärt. Er behauptete, der Kannibale habe nie existiert und sei vor allem ein (koloniales) Stereotyp radikaler Fremdheit. Im Gegensatz dazu bestand Claude Lévi-Strauss auf der Realität von kannibalischen Praktiken, vielleicht, weil er sich vor allem für die beiden Amerikas interessierte und dort, wie neuere Forschungen bestätigen, in einigen Regionen verschiedene Formen des Kannibalismus, unter anderem auch Nekrophagie, das Essen von Toten, betrieben wurden.
Pop goes the Menschenfresser
Radikal fremd ist das Phänomen aber keineswegs, die Bezeichnung „Menschenfresser“ oder der dem Französischen entlehnte „Oger“ führen geradewegs in die heimische Welt der Volksmärchen und Sagen, Urformen der Populärkultur also, in der menschliche Urängste ihre Verkörperung finden – und was könnte angsteinflößender sein als die Vorstellung, von einem Unhold gefressen zu werden, und sei er noch so fein gekleidet?
Gustave Doré, derivative work: Tsaag Valren, Public domain
Während der Menschenfresser europäischer Abstammung also seinen Schöpfern und Lesern gleicht, nur in größer und gefräßiger, entstehen mit dem Aufkommen der ersten Weltreiseberichte in unseren Breiten eben jene neue Vorstellungen, die wiederum auf antike Mythen fußen, und zwar vom „bösen Wilden“. Die Anthropophagie, bald häufiger als Kannibalismus bezeichnet und damit auch eine Spur konkreter im fernsten Süden verortet, wurde als das genaue Gegenteil erstrebenswerter Zivilisation gezeichnet4, und so sollte sie noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in unserer Popkultur herumgeistern, oft verniedlicht, wie bei Hergés „Jo, Jette und Jocko“, die von Kannibalen gemästet werden, oder ironisch gebrochen wie in Serge Gainsbourgs Chanson „Mambo miam miam“5, also in maximal verdaulicher Form. Erst durch die kritische Sondierung in jüngerer Zeit wird das so lange unhinterfragte Fortleben kolonialer Klischees, die wiederum auf verzerrte Darstellungen im Dienst handfester Interessen zurückgehen, aufgedeckt – was in meinen Augen nicht heißt, dass diese inzwischen klassischen Werke in den Giftschrank verbannt oder nachträglich zensiert werden sollten, im Gegenteil, es ist viel produktiver, sich damit auseinanderzusetzen, wie lange bestimmte Bilder tradiert werden, wie sie sich im Lauf der Zeit wandeln und was sie über den Kontext ihrer eigenen Entstehung erzählen. Das ist meistens ergiebig genug für ein einordnendes – und spannendes – Vor- oder Nachwort (oder Anmerkungen, Fußnoten, Glossar, ganz nach Gusto).6
Einverliebung
Wo von Eros die literarische Rede ist, ist die Anthropophagie zuweilen (gar nicht so selten) nicht weit. Auf den „Kannibalen von Rotenburg“ wurde im Rahmen dieser Essay-Reihe schon mehrfach Bezug genommen, Senthuran Varatharajah hat ihn in seinem Roman „Rot (Hunger)“ verewigt, und so denke ich lieber an ein anderes Chanson von Serge Gainsbourg, „L‘eau à la bouche“, in dem mit geradezu heiligem Ernst das Objekt der Begierde angefleht wird, sich dem verschlingenden Verlangen nicht zu entziehen – und sich davor nicht zu fürchten. Ich denke aber auch an eine so betörende wie verstörende Szene im Roman „Die Gouvernanten“ von Anne Serre, den ich vor einiger Zeit übersetzt habe, eine „Feier weiblicher Erotik“, wie ein überwiegender Teil der Kritik befand, oder ein Akt brutaler Gewalt, der nur deshalb nicht angeprangert werde, weil Frauen ihn begehen, wie Adam Soboczynski in einem Podcastgespräch mit Iris Radisch urteilte? In dieser Szene jagen zwei der drei titelgebenden Gouvernanten – junge Frauen, die in sich die Eigenschaften der Grazien und der Furien vereinen, was sich als erfrischend komplexes Bild von Weiblichkeit lesen lässt – einen schönen Fremden und erlegen ihn, um sich an ihm zu laben – oder erliegt er ihnen selig? Anne Serre lässt das als Virtuosin der Vieldeutigkeit offen:
Als sie aufhören, ist es sechs Uhr abends. Der Mann ist ausgeblutet, die schönen Hände liegen offen, wie verlassen an seinem Körper. Weil er friert, ohne sich zu regen, ziehen sie ihn wieder an. Dann machen sie sich leicht erschöpft, glücklich und erfüllt auf den Weg nach Hause, ohne ein Wort zu sagen.
Eindeutig ist hingegen, dass die Gouvernanten aus diesen amourösen Jagden auf Fremde Lebenskraft und Lebensfreude schöpfen, die sie eine Zeitlang durch die Eintönigkeit ihres weltabgeschiedenen Alltags tragen. Werden die Abstände zwischen den Jagden zu lang, verfallen sie in Melancholie und Apathie. Die gelegentliche Einverliebung ist so lebensnotwendig wie die tägliche Nahrungsaufnahme. Bleibt die Frage, ob eine bloße Umkehrung der Kräfteverhältnisse den Anteil an Gewalt wirklich genießbarer macht. Im realen Leben sicher nicht, in der Literatur hingegen kann – so würde es die Autorin Anne Serre selbst formulieren – alles ausagiert werden.
Ultima Ratio
Wird die Anthropophagie nicht als Ritual betrieben, als Metapher für die Lusterringung oder als Grundlage für ein Manifest verwendet, dient sie in größter Not schlicht dem Überleben, und das wiederum ist so ungeheuerlich, so unvorstellbar, eine solche Tabuverletzung, dass sie für die Kunst eine besonders starke Inspiration darstellt, im Horrorfilm wie in der Malerei. Und ein Kunstwerk wie das vielzitierte Floß der Medusa von Géricault, das einer wahren Begebenheit ikonische Gestalt verleiht, geht wiederum als Symbol äußersten Grauens in spätere Werke auch anderer Gattungen ein.
Théodore Géricault: Das Floß der Medusa
So bringt die Schriftstellerin Marie Darrieussecq in ihrem Roman „Das Meer von unten“ die Schiffbrüchigen eines Seelenfängers im Mittelmeer, das heutzutage immer wieder zum nassen Grab für unzählige Menschen in Not wird, mit diesem Gemälde in Verbindung, das sie zugleich resolut ins techaffine 21. Jahrhundert hineinholt:
Dann aber klingelte es überall im Saal, zwitscherte, pfiff, sang, schrillte und vibrierte, als fielen sämtliche Tropfen auf einmal von der Decke. Alle senkten den Kopf. Rechtecke aus blauem Licht beschienen alle Gesichter. Das Netz. Die Küste nahte. Alle auf dem Floß der Medusa prüften ihr Telefon.
Zu kannibalistischen Handlungen kommt es nicht, die Schiffbrüchigen wurden rechtzeitig geborgen, aber der Verweis auf Géricault genügt, um die größtmögliche Not und den potenziellen letzten Ausweg vor Augen zu führen.
Und das Fleisch ward Wort
In ihrer Rezension von Senthuran Varatharajahs oben erwähnten Roman fragt Birte Mühlhoff nach dem religiösen Gehalt und spießt eine Klischeevorstellung auf, die mir selbst bei oberflächlicher Betrachtung verführerisch plausibel schien:
Oder geht es hier um den alten, häufig für geistreich gehaltenen Einwurf, die christliche Feier des Abendmahls sei eine Art symbolischer Kannibalismus?
Abgesehen davon, dass es sich wohl eher um einen Fall von Theophagie handeln würde (aber das führt hier entschieden zu weit), vollzieht sich die Transsubstantiation von Brot und Wein in Leib und Blut auf spiritueller Ebene, spendet die Eucharistie geistige Nahrung. Nichts könnte also den riesigen Kochkesseln der Kannibalenkarikaturen ferner sein, und das Menschenopfer wurde laut biblischer Überlieferung lange vor Christi Geburt bereits mit Abraham abgeschafft. Religionsübergreifend wird das Gebet zur Gabe, das Wort nährt den Glauben (die Vorstellungskraft, den Austausch), die Liebe (zum Nächsten und zum Fernsten), die Hoffnung (auf gelingende Kommunikation, gegenseitige Inspiration). Der Geist (vielerlei Art) kommt über uns und lässt uns mit vielerlei Zungen reden, die wir niemandem abschneiden müssen. Eine Vorstellung vom Übersetzen, die mir näher ist als die der Anthropophagen, aber um das zu erkennen, ist die Beschäftigung mit ihnen überaus fruchtbar.