i-juca piranha
Séancen: Érica Zíngano übersetzen
Den Begriff des Kannibalismus, oder aufgehübscht, der Anthropophagie, fand ich immer unverdaulich, in erster Linie, weil die als Kannibalen Bezeichneten nie eine Chance hatten, Stellung zu beziehen. Und ich weiß nicht, warum ich einen Text, den ich übersetze, verschlingen, verdauen, in anderer Form wieder herausspucken sollte? Was ich verschlinge, ist nicht mehr da. Eher würde ich mir – nach Rücksprache – dort, wo es nicht wehtut, ein winziges Stückchen abschneiden, mit Textferment ansetzen, und daraus mit den vor Ort vorhandenen Zutaten neues Brot backen. Wobei das auch nur bedeutet, eine Metapher durch eine andere zu ersetzen. Eine Sache für eine andere. So der Titel eines Buches, das Érica Zíngano 2018 herausbrachte (bulky new press 2017): Sie bat befreundete Dichter·innen, ihr Erstes offizielles Gedichte auf Deutsch in eine Sprache zu übersetzen, die sie nicht (wirklich) sprechen. Eine egalitäre Geste. Ich wählte Italienisch. Daraus entstand später ein eigenes Gedicht, „poema ufficiale“.1 Übersetzung als Osmose. Ich weiß nicht, warum wir übersetzen immer mit Metaphern erklären müssen. Brücken, Menschenfresser, et j’en passe. Für mich ist übersetzen, wie das Schreiben „eigener“ Texte (die auch nur eine Übersetzung aus der Welt in mein Imaginäres und von dort aufs Papier sind), ein sehr konkreter körperlicher Prozess. Ein selbstvergessener Prozess. Und wenn die Texte der Dichter·in, die ich übersetze, wie die von Érica Zíngano lang vertraut sind und mir auf osmotische Weise nahe stehen und gehen, so passiert folgendes: Ich vergesse mich selbst, schlüpfe in den Text, zieh ihn mir an wie eine Haut, oder werde zum Medium, durch das hindurch der Text zu sprechen beginnt (meine französische Großmutter nahm an spiritistischen Séancen teil, erzählt meine Mutter). Ich habe dann das Gefühl, durch die Dichter·in hindurch den deutschen Text zu schreiben, bin mit dem ganzen Körper „drin“: im Rhythmus, im Duktus, in der Assoziationsweise. Eine Art Trance. Aus der ich am Ende des Gedichts benommen und glücklich erwache. Mit einer ersten Fassung. Und dann beginnt die Arbeit.
Odile Kennel
i-juca piranha
piranha (etim. - peixe dentado) (s.) – PIRA-
NHA, o mesmo que pirãîa (v.) (Lisboa, Hist.
Anim. e Árv. Do Maranhão, fl. 173)
PIRANHA, tisoura; peixe de dentes muito
cortantes.
PIR-ANHA. Ictiologia: piranha, peixe da
família dos caracídeos, gênero Pygocentrus.
= pir-ãia. Substantivo (peixe-dentes afiados,
por analogia): + tesoura
Pi|ran|ha [pi'ranha] ||<indian.-port.>
Pi|ra|ya [...ja], der; -[s], -s <indian.>
(ein Raubfisch)
PIRANHA
Worttrennung Pi-ran-ha (computergeneriert)
in südamerikanischen Flüssen lebender kleiner
Raubfisch mit sehr scharfen Zähnen, der in einem
Schwarm jagt und seine Beute in kürzester Zeit
bis auf das Skelett abfrisst
ich erinnere mich an meine französisch-
professorin ticiana melo
ich mochte sie sehr
das war vor vielen jahren
als wir ein praktikum absolvierten
ich und mirna juliana
meine praktikumskollegin
oder war es ein anderes fach
vor dem praktikum
als wir uns darauf vorbereiteten
französisch als fremdsprache
zu unterrichten
französisch als fremdsprache
unterrichten zu dürfen
– teil meiner ausbildung in sprach- und literatur –
wissenschaften die ich zum glück abbrach –
ich weiß noch wie sie erzählte dass
die unterrichtsmethoden für
fremdsprachen
eine geschichte hätten
die audiolinguale methode zum beispiel
auch bekannt als
audiovisuelle methode
sei vor dem zweiten weltkrieg
entwickelt worden
und sie sei entwickelt worden
als kriegstechnologie
sie wurde auch bekannt als
army specialized training programm
basierte auf behavioristischen theorien
und in labors erarbeiteten lerneinheiten
ich weiß noch sie sprach auch
vom vietnamkrieg
und dass die unterrichtsmethode
bevor sie als didaktisches werkzeug
verwendet wurde um das erlernen
einer bestimmten fremdsprache
zu verbessern oder zu ermöglichen
verwendet worden sei
– so erklärte sie –
um us-amerikanischen soldaten
möglichst schnell und gründlich
die sprache derjenigen
beizubringen die sie dann
umbringen
in dem jahr – genauer gesagt 2019
als ich anfing
diesen text zu schreiben – fing ich auch an
tupi zu lernen mit der methode navarro
método moderno de tupi antigo
gemeinsam mit einer studiengruppe der ufc
unterrichtet auf eigeninitiative
der professorin suene honorato2
sowie weiterer interessierter
ich bin ziemlich hinterher
im vergleich zur gruppe
mir kommt es vor
als wäre ich schon ewig
bei lektion vier
weil klar es ist
schon ziemlich kompliziert
das lernen
einer alten sprache
mit meinen
heutigen
alltagsproblemen
zu vereinbaren
aber das leben ist schon komisch
am ende vermischt sich alles
und man bemerkt es
erst gar nicht
seit ich wieder in brasilien lebe
lebe ich in einer straße namens
padre luís figueira
– jetzt wohne ich nicht mehr da
ich muss nur noch raus aus dem vertrag
und die wohnung übergeben
ich hab da etwas über ein jahr gewohnt
und hab während der pandemie
beschlossen
hierher zu ziehen nach aquiraz –
und diesen pater luiz figueira
hab ich damals gegoogelt
nur so aus spaß
und neugier
und hab herausgefunden
dass er genau wie josé de anchieta
werke über tupi verfasst hat
die beiden verfassten also die ersten grammatiken
über die sprache brasiliens
ich hab mir diese werke besorgt3
die pdfs dieser werke im internet
ich hab fac-simile-ausgaben dieser werke
gefunden und heruntergeladen
und hab die pdfs gelesen:
arte de grammatica da lingoa mais
usada na costa do brasil de 1595
feyta pelo padre joseph de anchieta
da companhia de jesu
und arte da grammatica da lingua
do brasil, de 1795, composta pelo
p. luiz figueira
da ich gerade tupi lernte
wollte ich vor allem
wissen wie die beiden diese sprache
systematisierten in der zeit der kolonisierung
am anfang ist es mühsam
altes portugiesisch und
die kalligraphie von 1500-irgendwas
und dann die vielen lateinischen ausdrücke
es dauert ein wenig
bis man sich an den stil gewöhnt weil klar
heute sind wir an viel kommunikativere
und dynamischere methoden
des spracherwerbs gewöhnt
aber wenn man diese bücher liest
findet man
andere sachen
andere ursachen ursächlichkeiten
in diesen büchern
findet man keine dialoge
wie den folgenden
der in einem ospb-buch
gestanden haben könnte
zum tag des indios
A: Hallo! Wie geht es dir?
Mein Name ist Tupi.
Und wie heißt du?
B: Guaraná!
Freut mich, Tupi!
A: Freut mich, Guaraná!
B: Spielen wir Tapir und Wasserschwein?
A: Au ja! Los!
Ich hol meinen Pfeil und Bogen.
Wer zuerst einen erlegt, hat gewonnen.
B: Abgemacht!
sowohl die grammatik von anchieta
als auch die von luiz figueira
geben einen allgemeinen ziemlich
deskriptiven überblick über die sprache
eher eine art linguistische abhandlung
über buchstaben nomen pronomen
aussprache- und betonungsregeln
und als bei beiden zum ersten mal
tupiverben dran sind
und als bei beiden zum ersten mal
die konjugation der tupiverben dran ist
verwenden sie keine verben
wie die in dem möglichen weiter oben
zitierten beispiel
verben die wir heute erwartungsgemäß
in der ersten lektion jeder x-beliebigen
fremdsprache lernen würden
sie verwenden das verb töten // jucâ / jucá
sie konjugieren das verb töten // jucâ / jucá
in sämtlichen modi tempora und personen
die es im damaligen portugiesisch gab
nebst der jeweiligen übersetzungen auf tupi
die entscheidung für das verb töten // jucâ / jucá
in beiden grammatiken
und in allen weiteren neuauflagen
scheint mir jedoch kein zufall gewesen zu sein
kein planloser einfall
oder einfach nur ein unfall
weil jemand ein buch schreibt
und in einem unaufmerksamen moment
einen hinweis vergisst
ganz im gegenteil die entscheidung beider
für das verb töten // jucâ / jucá
scheint zu veranschaulichen
was in den zwei grammatiken
offensichtlich ist
beim verfassen dieser grammatiken
die sicherlich dazu dienten
anderen tupi beizubringen
portugiesen in dem fall
weil wenn wir bedenken dass die indigenen
schon tupi sprachen
dann brauchten sie
diese handbücher nicht
um ihre eigene
sprache zu lernen
scheint die entscheidung
für das verb töten // jucâ / jucá
nur zu bestätigen was die nicht zu leugnenden
historischen fakten beweisen:
ein umfangreiches vernichtungsprogramm
einen genozid seit der kolonialzeit
und so wirken
diese grammatiken zugleich
an zwei fronten
1) einerseits als skripte
als handbücher für krieg
als lehrbücher um den anderen
in der sprache des anderen zu töten
a-jucâ / a-jucà: ich töte, tötete, habe getötet
hatte getötet, werde getötet haben
was also heißt dass y-jucà-piráma
bedeutet: um zu töten; etwas, das tot
sein muss; das es wert ist getötet zu sein
2) anderseits wie ein testament
aus dem wir ein mea-culpa heraushören
a-jucâ / a-jucà: ich töte, tötete, habe getötet
hatte getötet, werde getötet haben
und aus dem wir gonçalves dias höchstpersönlich heraushören
wie er tötet y-jucà-piráma
in beiden fällen sind diese zeitlosen
historischen dokumente
augenzeugen
des tötens
aîuká-matutenh?
aporoîuká
îukába
nach der lektüre dieser grammatiken
weiß ich nur dass der jucá
der jucá-baum caesalpinia ferrea libidibia ferrea
caesalpinia leiostachya
leopardenbaum usw. im atlantischen
regenwald brasiliens heimisch tropenholz extrem hart
material für keulen tacapes
stöcke ibirapemas iverapemes
der indigenen
dass dieser baum auch bekannt als
brasilianisches ebenholz
nie wieder derselbe war
jedenfalls nicht für mich
Jucá-Wasser
Zutaten:
- 1 (eine) 1,5l-Flasche gefiltertes Wasser
- 3 Juca-Schoten
Zubereitung:
- 2 (zwei) Juca-Schoten waschen, in Stücke schneiden und in die Anderthalb-Literflasche zu dem gefilterten oder Mineralwasser dazugeben
- 24 Stunden ziehen lassen
- 50ml 5 Mal am Tag zu sich nehmen
* BEACHTE: wenn in der Flasche noch 1/3 der Flüssigkeit verbleiben, die dritte Schote (gewaschen und geschnitten) hinzugeben, mit gefiltertem oder Mineralwasser bis zur Öffnung auffüllen und weiterhin 50ml 5 Mal am Tag zu sich nehmen, bis die Flasche leer ist.
i-Juca-Pirama ist ein aus 484 10-silbigen Versen bestehendes Gedicht des Dichters Gonçalves Dias, das 1851 veröffentlicht wurde und zu den bekanntesten indianistischen (s.u.) Gedichten der brasilianischen Moderne zählt.
i-Juca-Pirama (Gonçalves Dias schrieb in altem Portugiesisch Y-Juca-Pyrama) bedeutet Der, welcher tot sein wird oder der, welcher tot sein soll. Es erzählt eine Tupi-Vater-Sohn-Geschichte, die in der Anthropophagie eine zentrale Rolle spielt.
Der Indianismo ist eine Epoche bzw. Strömung der romantischen Literatur, Malerei und skulpturalen Kunst Brasiliens, in der die indigene Bevölkerung idealisiert und zum Ankerpunkt nationaler Identitätsbildung wird.
Piranha ist, neben der biologischen Bedeutung, auch eine abfällige Bezeichnung für Prostituierte oder Frauen, die ihre Sexualität selbstbewusst leben. Das Gedicht sei, so Érica Zíngano, eine piranhagem – eine Piranhisierung – des Gedichtes von Gonçalves Dias.