Bei sich haben
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Sie ist in mir, ich habe sie in mir. Und manchmal fühlt es sich an, als hätte ich sie gegessen. Mir einverleibt. Und sie hat sich breit gemacht in mir. Willkommen, rettender Eindringling.
Warum fühlt es sich so an? Ganz einfach, in meinem Körper befindet sich ein Organ, das nicht immer in mir war. Ich lebe mit einem, mit dem ich nicht geboren wurde, es hat einmal einem anderen Menschen gehört. Ich weiß nichts von ihm, weiß nicht, wer sie oder er war, trage jedoch ein Stück, Fleisch von ihr oder ihm in mir.
Eine oder einen andere·n in sich zu haben – das können nicht viele von sich sagen. Schwangere tragen neun, fast zehn Monate einen anderen Menschen in sich. Sex bietet vorübergehende Möglichkeiten, Organe eines anderen Menschen aufzunehmen – muss aber leider hin und wieder unterbrochen werden, um auch anderen Tätigkeiten nachgehen zu können.
Manchmal fühlt es sich für mich an, als wäre ich schwanger. Dabei weiß ich ja gar nicht, wie eine Schwangerschaft sich anfühlt. Dann denke ich wieder, ich hätte sie gegessen, verschlugen, mir einverleibt.
Wen meine ich mit dem Pronomen sie ? Die Spenderin? Das Organ? Die Lunge, die Niere, die Leber? Vielleicht beide? Alle? Wäre ich konsequent, ich müsste mir, uns ein neues Pronomen zulegen. Ganz und gar eindeutig fühle ich mich nicht mehr.
2
Seltsame Gemengelage: Ein Mensch verstirbt auf einer Intensivstation, und einige seiner basalen Körperfunktionen, die Atmung beispielsweise, werden mit maschinellen Mitteln aufrecht erhalten, bis eine Entscheidung getroffen wurde, ob diesem gerade noch nicht verwesenden Körper Organe entnommen werden dürfen, to harvest, wie es im Englischen wenig rücksichtsvoll heißt.
Auf Deutsch heißt es: Organe werden entnommen, um später transplantiert zu werden; transplantieren aber ist auch nur Lateinisch für verpflanzen. Scheint so, dass wir die botanisch-agrarindustrielle Metapher brauchen.
Verpflanzte Organe befinden sich in einer neuen Umgebung, in einem neuen Behälter, in einem anderen Körper. Einem Körper, den sie am Leben erhalten; einem Körper, der aber auch sie selbst weiterleben lässt. Win-win-Situation.
3
Manchmal vergesse ich, wie es kommt, dass ich eine andere in mir habe. Manchmal ist mir, als hätte ich sie aufgegessen. Aus dem hochinteressanten und noch immer sehr lehrreichen Buch Wohlgeschmack und Widerwillen: Die Rätsel der Nahrungstabus (1985)1 des amerikanischen Anthropologen Marvin Harris weiß ich, dass Kannibalismus sich für die meisten Gesellschaften ökonomisch nicht lohnt, obwohl Menschenfleisch eine wichtige Proteinquelle sein kann. Es ist unpraktisch, sehr aufwendig und gefährlich, Menschen einzufangen, um sie anschließend zu verspeisen, denn Menschen wehren sich meist dagegen, aufgegessen zu werden. Verständlicherweise. Im Normalfall zumindest. Und Menschenhaltung kostet: Bis sie zu besonderen Gelegenheiten verspeist werden, sind Menschen, die nicht ausgezehrt und abgemagert zum Festmahl werden sollen, nur weitere Esser, deren Mägen gefüllt werden müssen, Nahrungskonkurrenten also.
Ideell kann sich Kannibalismus aber durchaus lohnen: Wenn ein Trank aus der Knochenasche meiner verstorbenen Angehörigen verspricht, dass der oder die Verstorbene so für immer bei mir bleibt, ja, wenn ich daran glaube, dass Kraft, Intelligenz und Erinnerung des oder der Verstorbenen auf mich übergehen kann, warum sollte ich diesen Zaubertrank dann nicht trinken? Nicht wenige Gesellschaften praktizieren oder praktizierten entsprechende Rituale, auch das legt Marvin Harris ausführlich dar.
Und spielt nicht selbst die christliche Kultur beim kirchlichen Abendmahl mit einem symbolischen Kannibalismus? Für die Eucharistie musste das christliche Morgen- und Abendland nur die Transsubstantation erfinden, um an die Wesensverwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi zu glauben.
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Im ersten Moment scheint es gar nicht so abwegig, eine Person, die ich sehr liebe, verspeisen zu wollen. Ich kenne die Lust, ja die Gier, ganz der oder die andere zu werden, ganz aufzunehmen oder ganz aufgenommen zu werden. Zu verschwinden, der/die andere zu werden, die/den anderen für immer in mir zu haben. Zu behalten. Ja, fast alle, die ich bisher sehr geliebt habe, hätte ich in manchen Momenten gern gegessen, die Süße, mit der Kuchengabel, als petits fours, in Häppchen.
Aber so sehr mag ich Fleisch dann doch nicht. Außerdem – wo habe ich das bloß gehört oder gelesen? – soll Menschenfleisch ganz ähnlich wie Schweinfleisch schmecken. Schweinefleisch esse ich schon lange nicht mehr, also lieber auch kein Menschenfleisch. Zudem besteht der Nachteil solch einer sehr endgültigen Vereinigung auch darin, dass eine der sich so sehr liebenden Personen, belle à croquer, eine vollständige oder auch nur teilweise Verspeisung kaum überleben würde. Zumindest nicht im konventionellen Sinne.
Aber, ach, ich muss gar niemanden mehr aufessen. Ich habe schon eine andere in mir. Sie ist immer da, ich bin nie allein. Wir sind nicht allein.
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Ich muss an einen Roman von Slavenka Drakulić denken. Im Original ist er auf Kroatisch erschienen, aber weil ich ihn vor über zwanzig Jahren auf Spanisch gelesen habe, erinnere ich mich zuerst an den Titel der spanischen Ausgabe, er lautet: El sabor de un hombre, was ich ein wenig frei mit: Wie ein Mensch schmeckt übersetzen würde, aber ich bin da kein Spezialist, Der Geschmack eines Mannes wäre auch eine Möglichkeit. Auf Deutsch trägt der Roman den meiner Meinung nach eher unpassenden Titel Das Liebesopfer.2
Erzählt wird von einer polnischen Gastwissenschaftlerin in New York City, Literaturwissenschaftlerin, die ihren brasilianischen Liebhaber, einen Anthropologen, ebenfalls Gastwissenschaftler, gegen Ende ihres Aufenthalts, der nur einen heißen Sommer lang dauert, tötet und aufisst. Ein praktisches Problem dabei: Die Protagonistin kann ihren Liebhaber, der sich in seinen Forschungen u.a. mit Oswald de Andrades Manifesto Antropófago beschäftigt, hahaha, gar nicht ganz und gar aufessen. Ein menschlicher Körper liefert – je nach Größe – viel mehr Fleisch, als in einen kleinen Wohnheimkühlschrank passt. Große Stücke des getöteten Geliebten muss die Literaturwissenschaftlerin in schwarzen Müllsäcken entsorgen, sie verteilt ihn auf überquellende Müllcontainer in der Stadt.
Als der Roman 1997 in deutscher Übersetzung erschien, mutmaßte die Literaturkritik, verständlicher Reflex, ob die blutige Erzählung nicht etwas mit den Grausamkeiten des Jugoslawienkrieg zu tun haben könnte. Was vielleicht nicht alle wussten oder noch gar nicht bekannt war: Die Autorin Slavenka Drakulić hatte damals schon eine Niere transplantiert bekommen, und zwar die eines verstorbenen Menschen. Über ihre zweite Nierentransplantation, die sie einer altruistischen Lebendspende in den USA verdankte, schrieb sie später ein weiteres hochinteressantes Sachbuch.3
Die Autokorrektur meines Schreibprogramm möchte an dieser Stelle aus dem Wort Lebendspende das Wort Lebensende machen. Nein, diesen Korrekturvorschlag möchte ich nicht annehmen. Bitte nicht. Im Gegenteil!
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Und dann, wie das so ist, während ich über meinen eigenen imaginierten Kannibalismus nachdenke, stolpere ich auf Netflix über eine ältere Comedy-Serie namens Santa Clarita Diet (2017-2019). Eine fröhlich-energische Immobilienmaklerin mit hilfsbereitem, verständnisvollen Mann und pubertierender Tochter wird durch den Verzehr einer seltsamen Muschel zur freundlichen Untoten. Und kann sich von einem Tag auf den anderen nur noch von rohem Menschenfleisch ernähren. Sie vertilgt fortan Männer. Böse Männer. She becomes – Achtung, sexueller Subtext! – a man-eater, im wahrsten Sinne des Wortes. Nur ein einziges Mal verspeist sie zusammen mit einer ebenfalls infizierten untoten Frau eine äußerst gemeine weiße weibliche Altenpflegerin.
7
Manchmal denke ich: Habe ich ein Glück! Ich bin mit der perfekten Geliebten vereint! Ich trage sie in mir, sie erhält mich, lässt mich noch ein bisschen leben, und ich erhalte sie. Ach, du meine Geliebte, von der ich so wenig, fast gar nichts weiß. Ideale Projektionsfläche, leeres Blatt. Du bist immer da. Und ich musste dich nicht verspeisen.
8
Einmal traf ich tief in Anatolien auf eine Heilerin, die in einem anderen Leben eine klassische Medizinerin gewesen war, eine Unfallärztin. Ohne mich zu kennen oder zuvor gesehen zu haben, sagte sie mir auf den Kopf zu, dass ich lebertransplantiert sei. Sie sagte, sie könne das in meinem Gesicht lesen. Erkennen. Es stehe da geschrieben.
Sie sagte auch, dass der Mensch, der mir sein Organ, ein Stück von sich geschenkt habe, ein schöner und starker Mensch gewesen sei. Auch das könne sie sehen.
Ich weiß, dachte ich. Ich spüre sie, ich habe sie in mir. Wir sind noch da.
Master of Los Balbases: A verger's dream: Saints Cosmas and Damian performing a miraculous cure by transplantation of a leg.
Die frühchristlichen Zwillingsbrüder Kosmas und Damian waren der Legende nach Heilkundige, die Kranke unentgeltlich behandelten. Ihnen gelang angeblich sogar eine Beintransplantation.