„Mir brennt das Wort im Körper“
Gender, Übersetzung und Zensur im zeitgenössischen chinesischen Theater
Im Jahr 2019 war ich von der Schweizer Kulturstiftung und dem Pekinger „Sound & Fury“ Drama-Festival eingeladen, an einem Workshop zum zeitgenössischen Schweizer Theater teilzunehmen. Die Auswahl der Stücke oblag der Schriftstellerin Chen Si’an, selbst Theater-Regisseurin, die sich intensiv mit Frauen- und LGBTQ+-Themen auseinandersetzt. Chen traf die mutige Entscheidung, vier Werke mit klarer politischer Haltung und einer radikalen Einstellung zum Thema Geschlecht auszuwählen. Ich selbst war verantwortlich für die Übersetzung von Sibylle Bergs Und jetzt: die Welt!, sowie die Moderation des dazugehörigen Workshops. Schon während des Übersetzens hatte ich eine Vorahnung, dass dieses wilde, anti-patriarchale Werk im Cyberpunk-Stil kaum in China auf die Bühne gebracht werden konnte – und dass wohl auch nur weibliche Theatermacher·innen am Workshop teilnehmen würden. Diese Vorahnung bestätigte sich. Sogar die Dolmetscherinnen vor Ort waren allesamt weiblich. Weibliche Stücke, weiblich besetzte Bühnen und Zuschauerränge, in denen leise unter Frauen diskutiert wurde – in China wirkte das alles beinahe wie ein „Küchengespräch“ aus der ehemaligen Sowjetunion: In diesem intimen Raum waren Bergs Sätze geschützt, verbotene Wörter schwebten wie Pappelsamen zwischen Bügeleisen und Gardinen; während draußen die Straßen von der Pandemie menschenleer gefegt lagen und die heiße Mittagssonne sich keine Erinnerungen daran behielt.
Tatsächlich haben sich chinesische Theatermacherinnen niemals angewöhnt leise zu sprechen: Sie stehen dem patriarchalen System offen gegenüber und wählen oft ganz andere Organe als den Mund, um sich auszudrücken und die Sprache der Herrschenden herauszufordern. So wurde 2003 Eve Enslers Stück The Vagina Monologues erstmals an der Sun Yat-sen-Universität in Guangzhou aufgeführt und führte im Land zu einer Art „Vagina-Lauffeuer“, einer Bewegung für Geschlechtergerechtigkeit. Das Wort, das die meisten chinesischen Frauen bis dahin nicht einmal auszusprechen wagten, wurde zum Slogan dieser Bewegung. Eine Vielzahl sich an das Original anlehnende Stücke verkündeten bereits im Titel ein neues Rederecht: „Vagina Talks“, „Words of the Vagina“, „Vagina Monologues to the End“... Doch nachdem Aufführungen in Peking und Shanghai verboten wurden, konnte das Original lange Zeit nur von unabhängigen Gruppen oder in Untergrundtheatern aufgeführt werden. 2009, nach umfangreichen Kürzungen, der Verschleierung sexueller Szenen und der Entfernung politischer Inhalte, wurde das Stück vom Théâtre du Rêve Expérimental auf einige Universitäts- und Volksbühnen gebracht.
Im China des 21. Jahrhunderts gibt es kein zweites Werk, das wie dieses von Eve Ensler durch Sexualität und Theater eine soziale Bewegung entfachen konnte. Angesichts stetig strenger werdender Zensur war das Ende der „Vagina Monologe“ allerdings vorhersehbar. Zuerst war es zu einer Reihe von „Selbstzensuren“ der Übersetzer·innen und Theatergruppen gekommen, angefangen beim Titel: Änderungen wie in „Female Monologues“, „Her Monologues“ und „V Monologues“ bis hin zur von einer Phrase des Wetterberichts (阴到多云, yin dao duoyun = bewölkt bis teilweise bewölkt) inspirierten Homophon-Variante „Yindao duoyin“ (阴道多云, „Vagina teilweise bewölkt“). Aber egal ob man Pronomen neutralisierte, die Buchstaben ent-personalisierte oder scheinbar vom Wetter sprach, keine noch so verschnörkelte Übersetzung konnte das Stück wieder auf die chinesische Bühne bringen. Im politisierten Geschlechterdiskurs ist das Vage an sich bereits obszön.
Der zwanzigste Jahrestag des Verbots der originalen „Vagina Monologe“ fiel damit zusammen, dass die feministische Aktivistin Huang Xueqin, die in China die MeToo-Bewegung initiierte, wegen Landesverrats verurteilt wurde, obwohl sie bloß bei sich zu Hause mit Freund·innen über Frauen- und LGBTQ+-Rechte gesprochen hatte, ganz ohne regierungsfeindliche Äußerungen zu tätigen. Somit war das „laute“ Performen des Körpers als auch das geheime Sprechen über den Körper zum Grund für Strafverfolgung geworden.
In einem derartigen Umfeld ist es besonders schwierig, Werke von radikalen feministischen Dramatikerinnen wie Sibylle Berg und Katja Brunner aufzuführen, und deren satirisch-rebellische Sichtweisen auf das Patriarchat zu vermitteln. Die Hürden bei der Aufführung solcher Stücke bestehen heute nicht mehr nur darin, Genehmigungen von Regierung und Theatern zu erhalten, sondern auch bereits im ersten Schritt – der Übersetzung. Die Stimmen ausländischer Autor·innen erreichen die Zuschauer·innen und Leser·innen nur gefiltert, wie über ein Stille Post-Spiel. Von Elfriede Jelineks Der Tod und das Mädchen vor zwanzig Jahren, bis hin zu Ljudmila Ulitzkajas Erlkönig in diesem Jahr wurden alle Passagen zu den Themen Frauenrechten, Homosexualität und Transgender in Theaterstücken modifiziert oder entfernt.
Noch absurder mutet an, dass ich von Verlagen explizit aufgefordert werde, die Namen von Autorinnen und weiblicher Figuren bei der Übersetzung zu „entweiblichen“ – sowohl Nach- als auch Vornamen. Es dürfen keine weiblich konnotierten Namens-Zeichen (wie die Bezeichnungen von Blumen, Bäumen oder Edelsteinen) verwendet werden, alles muss komplett „neutral“ sein. Diese Tendenz geht sogar so weit, dass aus der vorher üblichen Schreibweise für Simone Beauvoirs Nachnamen, Bofuwa, das „wa“ gesprochene Zeichen in der Bedeutung Baby gegen das „wa“ gesprochene Zeichen in der Bedeutung Dachschindel getauscht wurde. Aus Olga Tokarczuk chinesischer Namens-Version verschwanden nach dem Nobelpreis an sie die vorher verwendeten Zeichen Blume und Buschkleerosa, während „männlichere“ Zeichen wie Untertan machen dazukamen.
Die Zensur der Übersetzung hat sich stetig weiter verschärft: Nicht nur Körper und Sexualverhalten müssen verschleiert werden, auch Namen sollen keinerlei Geschlechtermerkmale enthalten. Ironischerweise wird gleichzeitig die Existenz von Männern bei der Übersetzung künstlich maximiert, indem in Buchtiteln Begriffe wie „Junge“, „Vater“ usw. hinzugefügt werden: Karl Ove Knausgårds „Min Kamp. Første bok“ wurde als „Mein Kampf: Die Beerdigung des Vaters“ veröffentlicht; R.J. Palacios „Wunder“ wurde als „Wunderjunge“ übersetzt; Philippe Grimberts „Die Begegnung“ wurde zu „Das Tagebuch eines Jungen“.
Chinas offizielle Übersetzungsmechanismen zeigen also eine scheinheilige Entgeschlechtlichungstendenz: Einerseits werden unter dem Vorwand der Neutralität die Spuren der Frauen verwischt, andererseits wird Werken eine nicht vorhandene männliche Qualität aufgezwungen.
Die weiblichen und geschlechtlich-diversen Autor·innen in China haben, ganz im Gegensatz zur offiziellen Regierungslinie der „Geschlechterangst“, eine einladende und offene Haltung gegenüber literarischer Übersetzung, erklärt Regisseurin Chen Si'an: Theater und Literatur vermitteln vielfältige Körper und Perspektiven und nicht einfach nur das Geschlecht an sich. „Um das patriarchale Denken zu durchbrechen, ist nicht das Geschlecht (der Schaffenden) selbst wichtig, sondern die Befreiung von Einseitigkeit und Vorurteilen. Kreative Menschen – ob feministisch oder nicht – sollten sich nicht selbst einschränken oder gar verbieten, bestimmte als ,mainstream‘ oder ,patriarchalisch‘ empfundene Wörter zu verwenden. Was es zu bekämpfen gilt, das ist das große Schweigen – die selbst auferlegten Grenzen und Verbote.“ Darüber hinaus habe sie nie Bedenken gehabt, Männer ihre Stücke übersetzen zu lassen: „Essentielles kann nicht einfach durch Nicht-Aussprechen zerstört werden. Das Wesentliche ist wie ein heimliches Brennen im Inneren des Körpers.“
Letztes Jahr wurde ich erneut von der Schweizer Kulturstiftung eingeladen, diesmal um Katja Brunners Stück Die Hand ist ein einsamer Jäger zu übersetzen. Auch diesmal waren die Teilnehmerinnen des Workshops allesamt weiblich – obwohl das Stück in Deutschland auch mit einigen männlichen Schauspielern in Drag gespielt worden war, um eine stärkere satirische Wirkung zu erzielen. Der Workshop unterschied sich von den anderen, denn die Besetzung richtete sich nicht nur an professionelle Schauspielerinnen, sondern auch an Laien-Darstellerinnen, die sich auf der Bühne ausdrücken wollten. Obwohl dies vielleicht immer noch ein sanftes „Küchengespräch“ war, spürte ich plötzlich in den Stimmen der Darstellerinnen eine Leidenschaft, Barrieren zu durchbrechen und ein weit entferntes Publikum zu erreichen – ob sie nun professionelle Schauspielerinnen, Geschäftsfrauen, Studentinnen oder Barkeeperinnen waren, beim Spielen der namenlosen, unterdrückten und missbrauchten Frauen verband sie echte Verzweiflung und Wut: „Wir säen Wind, warten auf seine Antworten / Wir ernten keinen Sturm / Wir schneiden uns die Tränenkanäle raus / Das heißt künftig, wenn wir weinen, wässern wir nicht.“
In einer Nation der Zensur darf man gerade der Verbote wegen nicht schweigen. Das Theater sollte das Unsagbare aussprechen, dem Schweigen zuhören und den Menschen ihre Körper zurückgeben. Für Theatermacher·innen unter totalitären Bedingungen sind Wunden – die Wunde des Nicht-Schreiben-Könnens, das Leid des Nicht-Übersetzen-Könnens, der Schmerz des Nicht-Spielen-Könnens – genau das, was sie mit ihrem Körper zum Ausdruck bringen. Zwischen Tränen und Sturm, zwischen dem Funken im Herd und wütenden Flammen liegt nur ein Zeichen, ein Wort.