TALKS RundUmschau Die literarische Produktivität der Mehrsprachigkeit

Die literarische Produktivität der Mehrsprachigkeit

Auch wenn sie nicht an Pfingsten, sondern am Himmelfahrtswochenende stattfinden, spielen an den Solothurner Literaturtagen, der Werkschau des Schweizer Literaturschaffens, Fragen der Mehrsprachigkeit und der Übersetzung eine große Rolle. Mit ihren vier Sprachregionen versteht sich die Schweiz als Willensnation, die sich für den Zusammenhalt der Landesteile engagieren muss. Denn damit sich die Deutschschweizer, die Romands und die Tessiner einander zuwenden, statt ihren Sprachgemeinschaften in Deutschland, Frankreich und Italien, bedürfen sie der Ermunterung.

So nimmt die Übersetzungsförderung in der Schweizer Kulturförderung einen prominenten Platz ein. Davon zeugen auch die vielen Veranstaltungen an den Solothurner Literaturtagen rund ums Übersetzen. In einer Reihe von Ateliers geben Autor·innen und ihre Übersetzer·innen Einblicke in ihre Arbeit. Unter dem Titel «Skriptor Übersetzung» lassen sich Übersetzer·innen von einer Schar von Berufskolleg·innen Kritik und Anregungen erteilen. Und in einer Gesprächsreihe kann man Übersetzer·innen dabei zuhören, wie sie miteinander über ihre Methoden und Prinzipien diskutieren.

Wer in solche Veranstaltungen mit dem Vorurteil hineingeraten sollte, dass das Übersetzen bloß eine notwendige Verrichtung sei, um Informationen ungehindert in alle Richtungen fließen zu lassen, der würde eines Besseren belehrt. Schade nur, dass dieser rasch wachsende technikgläubige Teil der Gesellschaft an Himmelfahrt in Solothurn kaum anzutreffen ist. Es ist hier mitzuerleben, mit welcher Verve und Expertise die literarischen Übersetzer·innen am Werk sind. Staunenswert und ansteckend ist ihr Ringen darum, dasselbe mit anderen Worten zu sagen – ein Engagement, aus dem Einsichten in die Vielfalt der Sprachen, Kulturen, Mentalitäten und Zeiten nur so hervorsprudeln. Es werden keineswegs bloß Informationen importiert und formatiert. Es werden Horizonte erweitert und verbunden.

Die Wertschätzung der Übersetzungskunst spiegelt sich auch im Spezialpreis Übersetzung des Bundesamts für Kultur, der dem Grand Prix Literatur, dem größten Schweizer Literaturpreis, im Zweijahresrhythmus zur Seite gestellt wird. Heuer zeigte sich, wie die Auszeichnung eine·r Übersetzer·in zu einem politischen Statement geraten kann, so sehr sich die Jury auch um Sachlichkeit bemüht. Mit Dorothea Trottenberg wurde eine Übersetzerin aus dem Russischen ausgezeichnet, die sich seit Jahrzehnten um die Übertragung von Klassikern wie Tolstoi, Gogol und Bunin verdient macht. Das ist in Zeiten, in denen Konflikte von Boykottaufrufen begleitet sind, keine Selbstverständlichkeit. Die Preisträgerin hob denn auch hervor, wie wichtig die Fortsetzung des kulturellen Austauschs in Konfliktzeiten sei.

Von einer ähnlichen Botschaft war auch ein Gespräch mit der Oberzeile «Lyrik transkulturell» begleitet. Eine kurdisch-türkische Begegnung von Dichter·innen, die dadurch möglich wurde, dass die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia neuerdings auch Literatur und Übersetzung fördert, die in der Schweiz, jedoch nicht in einer Schweizer Landessprache entsteht. Das ist gewiss eine Maßnahme, die Inklusion fördert. Die Beschränkung der Übersetzungsförderung auf lebende Autor·innen, die im gleichen Zeitraum beschlossen wurde, bedeutet allerdings Abstriche an anderer Stelle. Die armenische Übersetzerin Ginoyan Gayane berichtete in Solothurn, dass sie für eine Goethe-Übersetzung Geld vom Goethe-Institut bekommt, für eine Gottfried-Keller-Übersetzung jedoch keins von Pro Helvetia. Nach «Kleider machen Leute» wird das armenische Lesepublikum also nicht so bald wieder ein Werk von Gottfried Keller zu lesen bekommen.

Mehr Gewicht legt man hierzulande darauf, das Ideal einer mehrsprachigen Schweiz hochzuhalten, die Phantasie eines diversen Landes, in dem sich alle verstehen. Dass dies ein frommer Wunsch ist, zeigte sich bei der Podiumsdiskussion «Literarische Mehrsprachigkeit», und zwar beim Blick in den Saal. Der Landhaussaal war überdimensioniert für die paar Dutzend Zuhörer·innen, die sich in eine viersprachige Veranstaltung trauten. Es zeigte sich einmal mehr: Die Schweiz ist mehrsprachig, aber die Schweizer·innen sind es nicht. Man konnte versucht zu sein, sich zu fragen, ob die Mehrsprachigkeit ein Leiden und die Übersetzung die Medizin dagegen sei. So sehen es die Technikaffinen, die ihre E-Mails von der KI übersetzen lassen und über die Qualität begeistert sind. Aber die sind ja nicht in Solothurn. Dass die Mehrsprachigkeit literarisch produktiv werden kann, zeigte im halbverwaisten Landhaussaal die deutsche Autorin Anne Weber auf, die an den Literaturtagen den Solothurner Literaturpreis entgegennahm. Sie wohnt seit vierzig Jahren in Paris und schreibt sowohl auf Französisch wie auf Deutsch, und kann auf diese Weise die nötige Distanz zum jeweils anderen Sprach- und Kulturraum einnehmen.

Dass die Übersetzungstätigkeit und mehrsprachige Lektüre prägend für ein literarisches Werk sein können, zeigte sich auch in einer Lesung von Ralph Dutli. Der Dichter und Übersetzer aus Schaffhausen, der seit Jahrzehnten in Heidelberg lebt, macht kein Aufhebens darum, doch sein literarisches Schaffen ist eng verknüpft mit seinen fremdsprachigen Studien und Übersetzungsversuchen. Dutli ist ein deutschsprachiger Dichter, doch er gewinnt sein Material, seine Klänge, seine Impulse auch aus der Auseinandersetzung mit Dichtung in verschiedenen Sprachen und in einer kreativen, explorativen Form der Übersetzung, durch die er die Grenzen seiner eigenen Sprache erweitert.

In seinem Gedichtband «Alba» gibt es einen Zyklus mit Übersetzungen, dem «Mundvorrat». Es sind prägende Gedichte, die der Lyriker stets zur Hand haben, oder gleich im Mund führen möchte. Seine Übersetzungen von Catull, Dante, Rimbaud oder Robert Frost sind kühne, eigenwillige Übertragungen, die oft in Varianten ein Spektrum von Ansätzen ausloten. Die Rolle von Dutlis Übersetzungen innerhalb seines Gedichtbands zeigt, dass er sich die fremdsprachigen Werke auch in dem Sinn anverwandelt, dass er sie als Impulse für die eigene Dichtung wirken lässt. In Dutlis Gedichtzyklen tauchen auf verschiedenste Weise Konzepte und Motive aus dem Mundvorrat auf. Sein Schaffen ist wesentlich ein Zwiegespräch mit Werken anderer Sprache, und seine Arbeit an der Übertragung und Aneignung dieser Werke ein Kernstück seiner Kreativität. Erstaunlich, welches schöpferische Potenzial in der Auseinandersetzung mit fremdem Sprachmaterial liegen kann, wenn ein findiger Geist am Werk ist, möchte man seinem KI-begeisterten Sitznachbarn zuflüstern. Doch da ist ja kein solcher.

Der Mond über der Aare und den Gebäuden der Literaturtage, Solothurn ©Florian Bissig

26.07.2024
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©Tonatiuh Ambrosetti

Florian Bissig, geboren 1979, studierte in Zürich, Berlin und Austin. Nach dem Lizenziat in Philosophie promovierte er in Englischer Philologie mit einer Studie zu Samuel Taylor Coleridge (Coleridge and Communication, Trier 2015). Er schreibt als freier Journalist für verschiedene Schweizer Zeitungen und Zeitschriften über Literatur, Musik und Philosophie. Seine Serie mit Auslegungen zu Schweizer Gedichten ist beim Limbus Verlag erschienen (Mauerlängs durch die Nacht, Innsbruck 2018). Beim Zürcher Verlag Dörlemann publiziert wurde seine Übersetzung von S.T. Coleridges Lyrik (In Xanadu) sowie seine Biografie des Dichters und Philosophen (Samuel Taylor Coleridge. Eine Biografie), bei der Friedenauer Presse sein Auswahlband zu Phillis Wheatley (Nie mehr, Amerika! Gedichte und Briefe). Florian Bissig lebt mit seiner Familie in Affoltern am Albis bei Zürich.

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