TALKS Staying alive Eine Stimme werden, auch wenn ich sie nicht sein will

Eine Stimme werden, auch wenn ich sie nicht sein will

Zur Neuübersetzung von Curzio Malaparte, „Die Haut“

Wie bei jeder Neuübersetzung stelle ich mir, bevor ich den Auftrag zusage, zwei Grundfragen: Wie sieht die alte Übersetzung aus, ist es wirklich sinnvoll oder notwendig, diesem Text eine neue deutsche Stimme zu geben? Und gibt es etwas an diesem Text, über die historische Distanz hinweg, das zu mir spricht, das mich erreicht, das ich höre und das mich zu meiner neuen Stimme anregt?

Die bisher einzige Übersetzung von „Die Haut“ stammt von Hellmut Ludwig, aus dem Jahr 1950, und sie ist sehr gut. Obwohl sie zeitlich sehr nah am Original von 1949 liegt und in der sprachlichen Ausgestaltung treffsicher den Ton eines am 19. Jahrhundert geschulten Erzählers auf Deutsch nachbildet,  motiviert mich just meine Antwort auf die zweite Frage zu einer neuen deutschen Stimme: Was aus dem durchweg hochemotional aufgeladenen und meinungsstarken Originaltext zu mir spricht, ist so direkt und kraftvoll, dass mir das geringste zeittypische Element eines Deutsch der 1950er Jahre störend, fast lähmend vorkommt. Ludwigs hervorragende Übersetzung, die ich in der allerletzten Endphase vor der Abgabe zur gelegentlichen Überprüfung meines Textverständnisses konsultiert habe, fixiert den Text in seiner Epoche und hat daher eine andere sprachliche Ausgestaltung des Tons; ich aber will diese starke Prosa möglichst unbeeinträchtigt ins Heute bringen (ohne merkliche sprachliche Modernisierungen, versteht sich, weil das anachronistisch wäre). Bei besagter Aufladung handelt es sich vor allem um einen moralisch grundierten Blick voller Verzweiflung und Zerrissenheit: auf die zeithistorische Gesamtlage und auf den Menschen darin.

Wovon erzählt dieser Roman? Neapel 1944. Die Amerikaner sind gelandet, die Deutschen sind auf dem Rückzug, die Italiener haben die Seiten gewechselt – und die Neapolitaner orientieren sich blitzschnell um. Was „Sieger“ und „Besiegte“ in dieser Situation genau bedeutet, ist schwer zu sagen. Capitano Curzio Malaparte ist als Verbindungsoffizier zwischen der italienischen der und der US-Armee unterwegs, beobachtet die Stadt und die Menschen in dieser chaotischen Umbruchphase mit changierendem Blick: mal sarkastisch bis zynisch, mal moralisch empört, mal aufrichtig deprimiert bis verzweifelt – und nur selten positiv. Er bewundert die Neapolitaner ob ihrer Schläue der stets Fremdbestimmten, die Amerikaner ob ihrer augenscheinlichen Reinheit, die Natur (Meer, Himmel, Vesuv) ob ihrer unbeirrbaren Kraft, aber meistens erregt das Gemenge der aktuellen Lage sein durch süffisante Distanz unvollkommen überspieltes Entsetzen. Eine ins Katastrophische zugespitzte Szene folgt auf die andere, durchsetzt mit Rückblicken, aus denen wir bruchstückhaft von Malapartes Weg durch den Faschismus (mal Mitläufer und vermutlich mehr – was er allerdings nicht erzählt –, mal missliebig) und durch den Krieg erfahren. Die Szenen der Handlung schildern alle möglichen moralisch extremen Auswüchse dessen, was Menschen im Krieg bzw. im Übergang zwischen Krieg und Frieden miteinander anstellen, einander antun.

Malaparte zieht als Erzähler sprachlich unterschiedliche Register, der Ton wechselt. Auch wenn das Werk „Roman“ heißt, kommt es zunächst mit dem Anschein eines Memoir im ironisch eingefärbten Reportagestil daher, das Erzähl-Ich namens Curzio Malaparte befindet sich biografisch dort, wo nach allgemeinem Wissen auch der Autor war. Doch selbst von dem modernen Begriff der Autofiktion wären die ins Surreale, in groteske Hyperbolik weiterwuchernden grellen Szenen, die sich in fast jedem Kapitel finden, nicht abgedeckt; Zeitgenossen haben ihn ob der erzählerischen Unzuverlässigkeit als Nestbeschmutzer und Lügner beschimpft (auch schon im Kontext seines 1944 erschienenen Buchs „Kaputt“), was er in einer Szene aufnimmt und abgefeimt abwehrt (wenn wir ihm die glauben wollen). Und so finden sich neben dem dialogsatten Reportagehaften auch die sprachlichen Mittel der drastischen Groteske, dann wieder hochpoetische Naturschilderungen oder aus Reflexionen hochfliegende Passagen zwischen Politik, Philosophie und Moral, die sprachlich zwischen Lamento und Litanei rangieren und die Gedanken religiös aufladen (mit Anspielungen mal aufs Christentum, mal auf antike Götter oder eine Art Naturspiritualität). Malaparte scheut keinen Eklektizismus, zuweilen wechselt er jäh die Tonlage.

Zusammengehalten wird all das von seiner in jedem einzelnen Moment klar spürbaren Haltung, von der aus er auf die Ereignisse blickt bzw. sie einordnet und bewertet – und die häufig umschlägt. Die sprachlichen Mittel entspringen der jeweiligen Haltung und sorgen für deutliche Wirkungen. Malaparte versucht, seine Leser·innen gleichzeitig permanent zu provozieren oder zu schockieren, und will sie in Wahrheit auf seine Seite ziehen: eine ambitionierte Gratwanderung.

Curzio Malaparte, Die Haut. Aus dem Italienischen von Frank Heibert. Hamburg: Rowohlt, 2024

Das Zusammenwirken von changierender Haltung und sprachlich-stilistischer Gestaltung war die größte der übersetzerischen Herausforderungen, zu der ich noch zurückkehren werde. Aber sie war nicht die einzige:

Malapartes italienischer Wortschatz ist überreich und nuanciert, dafür ist der Autor bekannt;

seine Syntax reicht von knapper Lakonik bis zu ausufernden Gebäuden voller Beschreibungsdetails; manche scheinbaren Redundanzen dienen dazu, eine mantraartige Rhythmik zu erzeugen;

  die poetischen Passagen – wenn es um Stimmungen und Atmosphären, oft im Zusammenhang mit Naturbeschreibungen geht – arbeiten mit einem Netzwerk aus Klangbezügen, v.a. Alliterationen und Assonanzen;

die Internationalität der erzählten Situationen spiegelt sich darin wider, dass Malaparte gern fremdsprachliche Elemente in den italienischen Text einbaut (bei Dialogen je nach Sprecher); das behalte ich bei (wo nötig, mit Übersetzung im Anhang). Er nutzt das Englische, Französische und Deutsche, zuweilen auch das Neapolitanische. Das brachte mich dazu, Anreden, militärische oder Adelstitel ebenfalls international zu belassen, selbst dort, wo er alles italianisiert – was an einem italienischen Schauplatz ja plausibel ist. All diese Formen auf Deutsch zu bringen wirkt hingegen merkwürdig, gerade wenn die fremdsprachlichen Dialoge im Text im Original bleiben (dass in den fremdsprachlichen Sätzen Fehler vorkommen, korrigiere ich übrigens meist, weil es die gültige italienische Ausgabe auch tut, konsequenter als diese);

Malaparte war ein klassisch gebildeter Mann und behält das nicht für sich – entsprechend gab es viele Anspielungen und Zitate aus Literatur, Musik, den Bildenden Künsten und der Geschichte zu recherchieren; auch nach den Schauplätzen in Neapel habe ich gesucht, sie allerdings nicht alle gefunden oder aber die berüchtigte Übertreibungskunst des Autors am realen Ort ermessen können. (Die berühmte Villa auf Capri, die im Roman auch vorkommt, ließ sich trotz vieler Versuche über die unterschiedlichsten Kanäle nicht besichtigen; ich hätte sie höchstens für eine Festivität teuer anmieten können.)

Villa Malaparte ©Peter Schüle

*

Um mich in diese Erzählstimme einzufühlen, musste ich neben den handwerklichen Herausforderungen aber auch selbst eine Haltung zu der Ausnahmegestalt Curzio Malaparte entwickeln; der autofiktionale Aspekt macht das wichtiger, als es bei einem vollkommen fiktionalen Roman der Fall wäre. Seine Biografie zeigt, dass er, stets mit den richtigen Verbindungen ausgestattet, geschickt durch die Turbulenzen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lavierte: Geboren 1898 als Curt Erich Suckert (der Vater stammte aus Zittau), kämpfte er jung im Ersten Weltkrieg, ging dann in den Diplomatischen Dienst, war früh bei den Faschisten dabei, wurde gegen Ende der 1920er Jahre aber mit seinem journalistischen Schreiben zu unbequem und fiel in Ungnade, inklusive Verbannung und Gefängnis, hatte zugleich aber einflussreiche Förderer unter dem Mussolini-Regime, so dass er freigelassen wurde (und das Grundstück auf Capri bekam und bebauen durfte!). Nach dem Krieg war er Verbindungsoffizier bei den Amerikanern, trat dann den Kommunisten bei, wurde glühender Maoist und gegen Lebensende ebenso glühender Katholik.

Malaparte (das Pseudonym verwendete er seit 1925, ein spöttisches Pendant zu Bonaparte, wörtlich schlechter Teil bzw. guter Teil) schrieb schon als junger Mann, von Gedichten bis hin zu Essays und den beiden großen Romanen „Kaputt“ und „Die Haut“; ebenso hat er stets journalistisch gearbeitet, insbesondere als Kriegsberichterstatter an vielen europäischen Schauplätzen sowie im italienisch kolonisierten Ostafrika. Ein irrlichternder, eher entwurzelter widersprüchlicher Mensch, der nach eigenem Bekunden Tieren mehr als Menschen vertraute (eine lange Passage1 in „Die Haut“ ist eine berührende Liebeserklärung an seinen Hund Febo, der unter dramatischen Umständen starb: „Keine Frau, keinen Bruder, keinen Freund habe ich je so lieb gehabt wie meinen Hund Febo“). Wie also einen Zugang zu diesem mir fremden Menschen finden, der sich hier zeigt (auch wenn er aus literarischen Gründen nicht alles akkurat beschreibt)?

In meinem Berührungsängste-Essay hatte ich davon berichtet, wie sich meine persönliche Haltung zu Malaparte im Lauf meines Erwachsenenlebens entwickelt und gewandelt hat. Der Prozess des Übersetzens der „Haut“, der danach erst richtig begann, brachte mir dazu eine spannende Erkenntnis.

Malaparte ist ein eher unangenehmer Zeitgenosse, das war ohnehin klar. Die verbalen Ausfälligkeiten, wenn er gerade wieder ins Zetern gerät, lassen oft keinen Stein auf dem anderen, und der kritische Blick bei ihm ist oft vom diskriminierenden nicht weit entfernt. Malaparte tritt durchweg als Moralist auf, sein Blick auf die Dinge, seine situative Haltung changiert aber. Mal ist sie laut, demonstrativ, aufgesetzt, dann wieder introvertierter und melancholischer, und manchmal kommt sie mir so wund vor, dass er sie sich kaum selbst eingestehen mag. Bei einem Irrlicht heißt es genau hinzuschauen.

Als Übersetzer kann ich nur dann meine Sprache für diese Achterbahn finden, wenn ich mich auf jeden Haltungswechsel einlasse, wenn ich die Rezeptur jeder Szene nachmische und -koche; nur dann kann auch in der Übersetzung deutlich werden, was gerade als Haltung vorherrscht, Amüsement oder Spitzzüngigkeit, Melancholie oder Verzweiflung, moralisches Entsetzen oder Fabulierlust. Und dann, erst dann ergeben die jeweiligen Stilmittel wirklich Sinn.

Aber ich muss mich auch auf ihn einlassen wollen. Es ist beim Übersetzen durchaus möglich – das war die größere Erkenntnis –, dass ich mich in eine Stimme, ein erzählendes Ich einfühle, mit denen ich mich keineswegs identifizieren kann. Ich kann einzelne Haltungen einnehmen – Empörung, Traurigkeit, Widerwillen, Ablehnung –, auch wenn deren inhaltliche Motivation mir verschlossen bleibt. Aber ich brauche dazu eine Vorstellung von den verschiedenen Ebenen seiner Haltungen; ich muss herausfinden, ob es einen Kern oder ein Fundament gibt, wo ich diesem Kopf, dieser Seele unverfälscht begegne, wo ich ihn glaubwürdig finde. Kann ich mich zu ihm auf dieses Fundament stellen, dann sind alle Finten, alle Posen in ihrem relativen Abstand zur Wahrhaftigkeit kein Problem mehr, und ich kann dorthin mitgehen, so fremd mir die jeweiligen Ausprägungen auch sind.

Etwa im Fall seiner galoppierenden Homophobie2: Ich kann diese Haltung der massiven Ablehnung und Abwertung als Arbeitsinstrument benutzen, auch wenn ich mich potenziell selbst gemeint und attackiert fühlen muss. Malaparte „argumentiert“ etwa, eines der sattsam bekannten Abwertungsklischees über Homosexuelle, dass deren weiblichen Anteile zu Unzuverlässigkeit, Wankelmut, Schwäche, Verrat führten, kurz, zu allen möglichen Formen von Illoyalität und mangelnder Integrität, existenziell zwingend sozusagen. Das ist ausgemachter Schwachsinn, homophob und frauenfeindlich in einem, und doch kann ich die Haltung einnehmen und sprachlich nachbilden. (Wenn ein Schauspieler einen Mörder spielt, dürfte er ihn und sein Tun auch kaum gutheißen.) Ich kann diese Sachlage auch mit der Beobachtung kurzschließen, dass der Roman von (Beinahe-)Liebeserklärungen an eine bestimmte Art strahlender Heldenfigur nur so wimmelt – an Helden nach Malapartes Verständnis freilich, moralisch integre Menschen (dem könnte ich sogar abstrakt zustimmen). Oft meint er damit die „reinen“, unverdorbenen Amerikaner, nicht die ‚Unkultivierten‘, ‚Naiven‘, wie er sie auch aufs Korn nimmt, sondern schon die mit europäischer Bildung ‚Veredelten‘ (hier scheint ein Dünkel auf, den ich ebenfalls als Haltung registriere und einfließen lassen kann, ohne ihn zu teilen), so wie sein Lieblingsamerikaner Jack. Ich kann registrieren, wie schwärmerisch Malaparte von Jack spricht, und könnte seine Homophobie als Selbsthass eines eigentlich möglicherweise kryptoschwul-verklemmten Mannes einsortieren (Malaparte ist nicht für Frauengeschichten bekannt); aber das ist mir, ehrlich gesagt, zu küchenpsychologisch.

Ich konzentriere mich lieber auf die Textebene, nehme die stärkeren und die subtileren Empfindungen und Haltungen dort wahr und bilde sie nach, so wunderlich sie auch anmuten mögen. Ob sich Malaparte etwas vormacht in Bezug auf sein Verhältnis zu Männern, ob er sich zum Opfer des faschistischen Regimes stilisiert, von dem er selbst manifest profitiert hat – das kann ich alles wahrnehmen, erwägen, darüber spekulieren. Auf meine Übersetzung aber hat es nur dann Einfluss, wenn es sich in irgendeiner Weise im Text abbildet.

Diese Herangehensweise kommentiere ich auch deshalb, weil es im Hinblick auf Rassismus in „Die Haut“ einen interessanten Entscheidungsbedarf gibt. Auf der biografisch-spekulativen Ebene wäre es mehr als verwunderlich, wenn Curzio Malaparte als Mensch nicht genau den beiläufig-salonfähigen Rassismus in seinem Wertesystem gehabt hätte, wie er (analog zum Antisemitismus) in seiner Zeit leider gang und gäbe war. Auf der Textebene dieses Romans aber fällt etwas Anderes auf. Wenn er schwarze Menschen beschreibt, klingt der Erzähler Malaparte, der lieber einen ätzenden Seitenhieb mehr als einen weniger austeilt, erstaunlich zugewandt. Die schwarzen Figuren in diesem Roman, die schwarzen US-Soldaten nämlich, stellen samt und sonders Sympathieträger dar, vielleicht eine Spur naiv (was ebenso für die meisten weißen Amerikaner gilt, die er schildert), aber so beschrieben, dass keine explizit rassistische Intention herauszulesen ist. (Wie gesagt, impliziten Rassismus als Grundüberheblichkeit europäischer weißer Männer spürt man schon.) Warum spielt das eine Rolle?

Nun, Malaparte bezeichnet die Soldaten nicht als „schwarze Soldaten“, also „soldati neri“, sondern mit dem italienischen N-Wort, das einen Buchstaben mehr hat. Hier stellt sich natürlich die Frage, wie ich das übersetze. Als ich vor zehn Jahren „Schall und Wahn“ von William Faulkner neu übersetzte3, kamen die beiden amerikanischen N-Wörter in dem Roman häufig vor, sie brandmarkten einen Rassismus, dem der Roman als einzig integre Figur Dilsey, die schwarze Haushälterin der weißen Familie, entgegenstellt; der weiße Rassist Jason schäumt, schimpft und flucht und wird in all seiner Widerwärtigkeit entblößt und vorgeführt. Es wäre mir widersinnig vorgekommen, die amerikanischen N-Wörter in seiner Rede stubenrein zu machen, das hätte Faulkners Kritik an dieser Figur abgeschwächt, ihr die Spitze genommen, sie stehen also in meiner Übersetzung. Hier, in „Die Haut“, benutzt Malaparte das N-Wort eher, weil es unhinterfragt „normal“ war, das zu tun, nicht um Rassismus auszudrücken und auch nicht, um ihn anzuprangern. So zumindest interpretiere ich die Haltung hinter seiner Wortwahl – aufgrund aller Indizien, die mir der Roman, der Kontext insgesamt liefert.

Und aus diesem Grunde habe ich beschlossen, die schwarzen Soldaten als schwarze Soldaten zu bezeichnen. Das ist aber kein Versuch, einen 80 Jahre alten Roman politisch zu korrigieren. Sondern der Versuch, dem, was der Originaltext in meiner Interpretation ausdrückt, und der dahinterstehenden Haltung gerecht zu werden. Es geht mir um angestrebte Wirkungsäquivalenz; damals war dieses Adjektiv zur Benennung schwarzer Menschen kein „Hingucker“, kein Triggerwort, kein spezieller politischer Positionsbezug. Würde ich heute das N-Wort benutzen – in der Absicht, die historische Situation, den damals typischen Sprachgebrauch treu abzubilden –, so würde ich dem Bild, das wir uns als heutige Leser·innen von der Erzählfigur machen, eine Schlagseite in Richtung expliziter Rassismus mitgeben, die diese Figur nicht hat, es entstünde eine Teil-Wirkung, die das Original überzeichnen würde.

Malaparte beschreibt die ‚Völkerfreundschaft‘ zwischen den schwarzen Soldaten und jungen Neapolitanerinnen, die von ihren Familien auf sie angesetzt wurden, um in der grassierenden Hungersnot an Essen aus den Armyshops heranzukommen: „Es gab hier keine Familie, ganz gleich wie arm, ohne schwarzen Sklaven.“4 Das soll provozieren, aber welche Haltung nimmt er dabei ein? Er beobachtet und spitzt zu. Er ironisiert damit vor allem die schlauen Neapolitaner. Er spricht von Sklaverei, um mit einer Mischung aus Kopfschütteln, Schaudern und Amüsement anzuzeigen, wie heruntergekommen diese Nachkriegsgesellschaft moralisch ist (anders heruntergekommen als der Faschismus zuvor).

Diese Liebesgeschichten bzw. die daraus hervorgegangenen Kinder sind übrigens in die neapolitanische Folklore eingegangen. Ein volkstümliches Lied aus jener Zeit hat bis heute seinen Platz im kollektiven Gedächtnis der neapolitanischen Kultur, „A tammurriata nera“ (die „tammurriata“ ist ein kampanischer Tanz, hier eine „schwarze“), und wird immer wieder von neuen Musikformationen, die auf Neapolitanisch singen, gecovert; die besagten Kinder und die Umstände ihrer Existenz werden humor- und liebevoll und unverblümt benannt. Da Malaparte die filouhafte Lebenskunst Neapels immer wieder bewundernd beschreibt, scheint mir auch aus diesem Blickwinkel meine Entscheidung gegen das schockierende N-Wort dem Geist des Originals treuer zu sein, als es eine wörtliche Imitation im Deutschen wäre.

*

Malapartes Erzählstimme schillert und oszilliert zwischen den verschiedenen Haltungen, oft wirkt er nur wie ein um sich schlagender Menschenverächter. Doch an manchen Stellen wird er klar und fast schlicht. Und dort kann ich dem für mich wahrhaftigen C. M. begegnen. So etwa nach dem Tod des jungen amerikanischen Soldaten, der nicht mehr zu retten war, den er aber noch davor bewahrt, unter schlimmsten Schmerzen auf dem rumpeligen Transport ins Krankenhaus zu verrecken; er hätte ohnehin mit seiner Bauchwunde nicht überlebt, und Malaparte versüßt ihm die letzten Minuten durch clowneske Ablenkung, auch wenn die amerikanischen Soldaten ihn nachher dafür verprügeln. Als der Junge stirbt, schreibt Malaparte:

„Ich nahm seine Hand zwischen meine und wandte den Blick ab. Ich hatte einen Kloß im Hals und bekam fast keine Luft. Ich kann nicht mitansehen, wenn ein Mensch leidet. Fast würde ich ihn lieber eigenhändig umbringen, als ihn leiden zu sehen. Bei dem Gedanken, dass dieser arme Junge, der da mit aufklaffendem Bauch im Schlamm lag, ein Amerikaner war, stieg mir die Röte ins Gesicht. Warum war es kein Italiener, kein Italiener wie ich? Ich ertrug den Gedanken nicht, dass dieser arme amerikanische Junge litt, und wir waren schuld daran, auch ich war schuld daran.

Ich wandte den Blick ab und betrachtete dieses seltsame ländliche Fest, diesen kleinen Watteau, von Goya gemalt. Es war eine lebendige und zarte Szene: der am Boden liegende Verwundete, der Schwarze, der, an einen Olivenstamm gelehnt, Mundharmonika spielte, diese abgerissenen, blassen, hageren Mädchen in den Armen der schönen, rotwangigen Soldaten, mitten in diesem silbrigen Olivenhain, zwischen den kahlen Hügeln voll roter Steine im grünen Gras, unter einem grauen, alten Himmel, schlaff, runzelig, durchzogen von dünnen, himmelblauen Adern, wie die Haut einer alten Frau. Und ganz allmählich spürte ich, wie die Hand des Sterbenden kälter wurde, sich ganz allmählich dahingehen ließ. (…)

Alle fielen über mich her und ließen Faustschläge und Tritte regnen. Ich ließ sie prügeln und wehrte mich nicht, ich schrie nicht, ich sagte kein Wort. Fred war gestorben, ohne zu leiden. Ich hätte mein Leben hingegeben, damit dieser arme Junge ohne Schmerzen sterben konnte. Ich war auf die Knie gefallen, und alle prügelten auf mich ein, mit Fäusten und Tritten. Und ich dachte daran, dass Fred gestorben war, ohne zu leiden.5

Das ist so eine Herzstelle des Buches, wo ich Malaparte begegne, und da kann ich nicht anders, als ihn in seiner tieftraurigen Erschütterung ernst zu nehmen. All seine Kapriolen, seine hochfahrende Groteskerie, sein Pathos messen sich daran; so sehr er mit der Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz spielt, hier ist er echt und glaubwürdig. Das komplexe Gebäude seiner Haltungen ruht auf diesem Fundament.

Und sobald mir das klar geworden war, konnte ich in dem Gebäude wohnen, flüstern, schimpfen, ätzen und bramarbasieren wie er, mit den sprachlichen Mitteln des Deutschen, die mir dafür zu Gebote standen.

13.08.2024
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©Christa Holka

Frank Heibert, Berlin, geb. 1960, Literatur- und Theaterübersetzer aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen sowie Dozent, Autor, Kritiker, Jazzsänger. Übersetzungen: ca. 100 Romane und Erzählbände, 10 Sachbücher und 110 Theaterstücke, u. a. Werke von Don DeLillo, Richard Ford, George Saunders, Lorrie Moore, William Faulkner, Raymond Chandler, George F. Walker, Boris Vian, Raymond Queneau, Marie Darrieussecq, Yasmina Reza, Michel Marc Bouchard, Karoline Georges u.v.a. Zahlreiche Ehrungen, zuletzt Straelener Übersetzerpreis 2017 (zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel).

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