TALKS Staying alive Schwebende Konkretheit

Schwebende Konkretheit

Zur Neuübersetzung von Toni Morrisons Romanen „Sehr blaue Augen“ und „Beloved“

Im Sommer 2022 trat der Rowohlt Verlag mit einer Anfrage an mich heran, die mich ebenso verblüffte wie elektrisierte. Es ging um Toni Morrison: Ich sollte ihre einzige Erzählung Recitatif (dt. Rezitativ) erstmals ins Deutsche bringen, einen hochspannenden, bis dahin aber noch nicht übersetzten Text, der über viele Jahre nur in Anthologien erschienen und damit ein wenig unter dem Radar geflogen war, nun aber im Frühjahr 2022 als eigener Band auf Englisch erschienen war, mit einem fast ebenso langen Vorwort (in der deutschen Ausgabe ist es wegen „Spoiler-Gefahr“ das Nachwort) von Zadie Smith, deren Bücher ich seit inzwischen rund fünfzehn Jahren übersetzen darf. Eine großartige Anfrage, die mich ungeheuer freute, und da ich just im Januar des Jahres auch schon ein Interview mit der Autorin für den schönen Sammelband Zwölf Zimmer für sich allein, erschienen im Kampa Verlag, übersetzt hatte, sagte ich begeistert und ohne Zögern zu.

Aber damit war die Anfrage nicht zu Ende: Es gab auch noch ein größeres Projekt des Verlags, für das man mich gewinnen wollte. Zum dreißigsten Jubiläum des Nobelpreises, den Toni Morrison 1993 als erste und bis heute einzige Schwarze Frau erhielt, sollte eine Neuausgabe ihrer Werke beginnen, die bestehenden deutschen Übersetzungen sollten überarbeitet und sprachlich aktualisiert werden, vier ihrer ersten sechs Romane waren aber auch zur Neuübersetzung vorgesehen. Und diese auf mehrere Jahre angelegte Aufgabe sollte, so wünschte es sich der Verlag, ich übernehmen.

Da musste ich mir dann doch erstmal Bedenkzeit ausbitten. Ich hatte bis dahin, über fast zwanzig Berufsjahre hinweg, eine Menge Erfahrung mit Erstübersetzungen gesammelt, aber eher wenig mit Neuübersetzungen, und Toni Morrison, 1931 geboren und im August 2019 gestorben, ist – hier passt er einmal, der vielstrapazierte Begriff – eine Ikone; eine der wichtigsten und einflussreichsten Schriftstellerinnen der afroamerikanischen Literatur, eine Einordnung übrigens, auf die sie selbst größten Wert legte1, ein gewaltiges Vorbild für die Schwarzen Autorinnen, die ich seit Jahren übersetze, und zahllose andere Schreibende, und auch mein eigener Respekt, meine eigene Bewunderung für sie waren gewaltig. Fühlte ich mich der Aufgabe, einigen ihrer Werke eine neue deutsche Stimme zu geben, und der Verantwortung, die das aus meiner Sicht bedeutet, wirklich gewachsen? Und, auch das eine Frage, die ich mir angesichts der gesellschaftlichen Debatten der letzten Jahre stellte, stellen musste: War ich als weiße Übersetzerin wirklich die Richtige dafür?

Wenn eine Übersetzerin vor solchen Fragen steht, hilft zunächst nur eins: das Original lesen. In meinem Fall: Wiederlesen, es noch einmal auf mich wirken lassen, sehen, ob ich es „höre“, ob mir beim Lesen der englischen Sätze bereits eine Ahnung kommt, wie sie auf Deutsch klingen könnten. Ich kannte Toni Morrison, las sie schon seit dem Studium, aber ich hatte ihre Werke nie mit übersetzerischen Augen und Ohren betrachtet und belauscht. Das tat ich jetzt, und ich stieß auf einen Ton, einen Rhythmus, eine Sprachgewalt, die mir sofort in die Glieder fuhren, mir in den Fingern juckten. Und ja, ich „hörte“ diese Prosa, konnte mir vorstellen, wie ich sie ins Deutsche bringen würde, und war erneut gepackt und zutiefst bewegt von den Geschichten und den Figuren, so schwer sie oftmals auszuhalten sind. Im (nachträglich verfassten) Vorwort zu Sehr blaue Augen blickt Toni Morrison selbstkritisch auf ihren ersten Roman aus dem Jahr 1970 zurück; sie ist unzufrieden mit der fragmentarischen, auf verschiedene Perspektiven verteilten Erzählweise, die sie damals gewählt hat, und glaubt zudem, das Buch habe seinen Zweck nicht erfüllt: „Viele Lesende lassen sich zwar berühren, aber nicht bewegen.“2 Nun, ich habe mich dann doch auf meinen übersetzerischen Mut besonnen und beschlossen, mich zum aktiven Lesen, das Übersetzen ja letztlich ist, bewegen zu lassen, zuzusagen und meine langjährige Erfahrung, mein Einfühlungsvermögen und meine Sprachfreude in den Dienst dieser Autorin zu stellen.

*

So viel zur Vorgeschichte. Das Projekt dauert an, mit Beloved erscheint im Oktober 2024 der zweite neuübersetzte Roman, nach Sehr blaue Augen im Oktober 2023; außerdem sind Ende 2023 noch Sula, Toni Morrisons zweiter Roman, 1980 übersetzt von Karin Polz und nun von Mirjam Nuenning überarbeitet und sprachlich aktualisiert, und Tar Baby erschienen, der dritte Roman, 1983 unter dem Titel Teerbaby von Uli Aumüller und Uta Goridis ins Deutsche gebracht und jetzt sprachlich überarbeitet und aktualisiert von Marion Kraft, die darüber in ihrem hervorragenden Essay „Village Literature und Ancient Properties in dieser Reihe berichtet hat. Der vielstimmige Chor aus Übersetzerinnen, der Toni Morrisons Werk in der deutschen Fassung prägte, bevor ab 1999 mit Paradies bis zum Tod der Autorin 2019 Thomas Piltz als ihr Hauptübersetzer übernahm, bleibt damit auch der Neuausgabe erhalten.

Rede von Toni Morrison: „A Tribute to Chinua Achebe - 50 Years Anniversary of 'Things Fall Apart'“. The Town Hall, New York City, 26. February 2008.

Und im Grunde bedeutet Neuübersetzen ja auch genau das: dem mehr oder weniger großen Chor aus Stimmen eine weitere hinzuzufügen, einen weiteren, anderen Ton miteinzubringen. Im Fall einer Neuübersetzung von Toni Morrison galt es natürlich nicht zuletzt, eine rassismussensible Begrifflichkeit und Sprachverwendung zu finden; die Erstübersetzungen „meiner“ beiden Bücher stammen von 1979 respektive 1989, als sich die Sprachentwicklung und -wahrnehmung diesbezüglich noch auf einem ganz anderen Stand befand. Gleichzeitig sollte aber möglichst nichts geglättet oder beschönigt werden: Toni Morrison schont ihr Publikum in ihrem Gesamtwerk nicht, sie setzt es oft entsetzlichen Geschehnissen aus und verhandelt den Rassismus, mit dem ihre Schwarzen Figuren tagtäglich konfrontiert sind, ebenso wie den, den diese Figuren längst selbst verinnerlicht haben – Pecola, die elfjährige Schwarze Protagonistin aus Sehr blaue Augen, die sich nichts sehnlicher wünscht als die titelgebenden blauen Augen, verkörpert das ebenso eindrücklich wie ihre Mutter Pauline, die sich selbst, ihren Mann und ihre Kinder als hässlich empfindet –, und sie verwendet dafür die entsprechende Sprache. In Abstimmung mit dem Lektorat und im Austausch mit den Kolleginnen, die zeitgleich den zweiten und den dritten Roman überarbeiteten, beschlossen wir, rassistische Ausdrücke auf Englisch zu belassen, aber auszuschreiben, und auch weitere, mit Race verknüpfte Themenfelder wie das des Colorism – der Diskriminierung Schwarzer Menschen mit dunklerer Haut durch Schwarze Menschen mit hellerer Haut, die in Sehr blaue Augen eine Rolle spielt – lösten wir auf ähnliche Weise. Beim Übersetzen war und bin ich mir sehr wohl bewusst, dass es auch ein Privileg bedeutet, Toni Morrison in den 2020ern neu zu übersetzen: Nicht nur bin ich durch meine persönliche intensive Auseinandersetzung mit Texten Schwarzer Schreibender und den gesellschaftlichen Debatten der letzten Jahre auf einem ganz anderen Wissens- und Sensibilisierungsstand, als man ihn Ende der 1970er wohl überhaupt erreichen konnte, und ich kann diesen Wissensstand auch beim deutschsprachigen Lesepublikum in ganz anderer Form voraussetzen, als es die Kolleginnen in früheren Jahrzehnten konnten beziehungsweise durften – so mancher Verlag hat seinem Publikum ja mitunter auch nicht allzu viel zugetraut. Dazu zählt auch, dass ich auf ganz andere Weise mit Einsprengseln aus dem Original in meinem deutschen Text verfahren kann: Anreden wie „girl“ oder „man“ beispielsweise bleiben stehen, und auch Liedtexte – seien es die Blues-Songs in Sehr blaue Augen oder die Spirituals in Beloved – bleiben in meinen Übersetzungen auf Englisch. Und auch auf die allgemeine Kenntnis von Begriffen wie Underground Railroad für das Netzwerk im Untergrund, mit dem von Mitte des 18. bis zur offiziellen Abschaffung der Versklavung im 19. Jahrhundert versklavten Menschen die Flucht ermöglicht wurde, kann ich heute viel eher setzen. So kann ich in meinem deutschen Text ein paar zusätzliche Spuren hinein in die afroamerikanische Tradition legen, aus der heraus Toni Morrison ihre Werke verfasst hat und in die sie sich mit ihnen wiederum einschreibt.

Beim eigentlichen Übersetzen ging es mir dann vor allem um Ton und Rhythmus, außerdem um eine sprachliche Unmittelbarkeit, die das Lesepublikum hineinzieht und dafür sorgt, dass ihm die Ungeheuerlichkeiten, die diese Romane schildern, auch wirklich nahe kommen, dass es im Idealfall doch nicht „nur“ berührt, sondern bewegt wird. Bleiben wir einen Moment beim ersten der beiden Bücher, bei Sehr blaue Augen. Das ungeheuerliche Ereignis, das den Mittelpunkt des Buches bildet, wird gleich in den ersten beiden Sätzen erzählt:

„Sonst spricht ja niemand darüber, aber im Herbst 1941 gab es keine Ringelblumen. Wir dachten damals, die Ringelblumen wachsen nicht, weil Pecola ein Baby von ihrem Vater bekommt.“3

Der Roman selbst beleuchtet dieses Ereignis dann aus den unterschiedlichsten Figurenperspektiven, sehr präsent bleibt aber die Stimme von Claudia, der Ich-Erzählerin, die zum Zeitpunkt der Handlung ein kleines Mädchen ist, neun Jahre alt, jünger als Pecola und auch jünger als ihre Schwester Frieda, dem anderen Teil des „Wir“ dieser Passage. In ihr kommen die kindliche Perspektive des erlebenden und die erwachsene Rückschau des erzählenden Ichs in einer Art überzeitlicher Mündlichkeit zusammen, die mir für dieses Buch zum Grundton meiner Übersetzung wurde – im Fließtext ebenso wie beim Black Vernacular der Dialoge, das ich zusätzlich durch Umgangssprachemarker kennzeichne. Diese sollten, das war mir wichtig, die Übersetzung aber möglichst nicht zu sehr in einer konkreten Zeit verorten, wie es Slang- und Jargonausdrücke ja häufig tun. Dafür ein kleines dialogisches Beispiel – es geht um einen Untermieter, der bei Claudias und Friedas Eltern einziehen soll und vorher bei einer nicht mehr ganz jungen, alleinstehenden Nachbarin gewohnt hat:

„I kind of thought Henry would marry her one of these days.“
„That old woman?“
„Well, Henry ain’t no chicken.“
„No, but he ain’t no buzzard, either.“4

Die Erstübersetzung von Susanna Rademacher wählt hier deutlich umgangssprachlich-idiomatische, dabei aber sehr den Fünfziger- und Sechzigerjahren verhaftete Begriffe, die im heutigen Deutsch zwangsläufig leicht angestaubt wirken:

„Eigentlich dachte ich, Henry würd sie eines Tages heiraten.“
„Die Alte?“
„Na ja, Henry ist auch kein heuriger Hase mehr.“
„Nein, aber auch kein Mummelgreis.“5

Mein Versuch war, neutralere Begriffe zu wählen und damit die „Haltbarkeit“ des Textes vielleicht ein wenig zu erhöhen. Außerdem wollte ich die Vogelmetaphorik erhalten, die das Original einführt, sowie die raubvogelhafte Anzüglichkeit, die das englische Wort „buzzard“ in diesem Kontext vermittelt:

„Ich dachte ja immer, Henry heiratet sie irgendwann.“
„Die alte Wachtel?“
„Na, Henry ist auch kein Küken mehr.“
„Aber auch kein alter Geier.“6

Toni Morrisons im Vorwort geäußerte Selbstkritik an ihrer fragmentarischen Erzählweise übrigens in Ehren – mich persönlich faszinieren die vielen unterschiedlichen Perspektiven, die mich als Übersetzerin herausfordern, auch als Leserin. Ganz besonders beeindruckt mich, wie sie sogar noch den Figuren, die im Buch die grauenvollsten Taten begehen – insbesondere Pecolas Vater Cholly Breedlove, der seine elfjährige Tochter wiederholt sexuell missbraucht, aber auch Soaphead Church, einem pädophilen Möchtegern-Geistlichen, der Pecolas Trauma noch vertieft und ihr gewissermaßen den Weg in den Wahnsinn ebnet, indem er behauptet, ihren Wunsch nach blauen Augen erfüllen zu können –, eine eigene Perspektive und damit eine distinktive Stimme gibt, sie zwar nicht rechtfertigt, aber doch auch nicht verurteilt, sondern zeigt und erklärt, wie sie zu dem wurden, was sie sind. Und bei allem geschilderten Grauen und aller Tragik nehme ich in ihrem Sprachduktus und ihrem Erzählen immer auch eine große Innigkeit und Wärme wahr und oft eine geistreiche, gelegentlich ins Groteske abdriftende Komik, die sich beispielsweise in Figuren wie einer der Sexarbeiterinnen zeigt, die im Stockwerk über der Familie Breedlove wohnt und die Pecola „selten zwei Mal beim gleichen Namen [rief], aber die Bezeichnungen waren immer liebevoll aus den Speisen und Leckereien gewählt, an die sie fortwährend dachte.“7 Diese malerischen Anreden, „Dumplin’“, „chittlin’“, „puddin’“, „sweetnin’“ und so weiter, werden dann doch übersetzt, mit „Klöpschen“, „Rübchen“, „Zuckerschötchen“ oder „Törtchen“, je nachdem.

*

Bei Sehr blaue Augen stand von Anfang an fest, dass die Neuübersetzung denselben Titel tragen wird wie die Erstübersetzung. Die zahlreichen Bedeutungsebenen des englischen Originaltitels, The Bluest Eye, in dem neben der Farbe Blau auch noch „blue“ im Sinne von „traurig, trübsinnig“ mitschwingt und natürlich der Blues als musikalische Richtung und der zudem noch mit dem englischen Gleichklang von „eye“ (Auge) und „I“ (Ich) spielt, gehen dabei natürlich verloren, reduzieren den Titel auf die offensichtliche Ebene des Wunsches der jungen Protagonistin nach blauen Augen – den blauesten Augen überhaupt. Dennoch passt der Titel und läuft auch nicht Gefahr, falsche Assoziationen zu wecken, wie etwa Teerbaby, der ursprüngliche deutsche Titel des Romans Tar Baby – auch darüber spricht Marion Kraft in ihrem oben verlinkten Essay.

Anders verhält es sich aber mit Beloved, Toni Morrisons fünftem und womöglich bekanntestem Roman, der 1998 von Regisseur Jonathan Demme mit Oprah Winfrey, Danny Glover und Thandie Newton in den Hauptrollen verfilmt wurde. Der Titel der Erstübersetzung von Helga Pfetsch lautet Menschenkind, unter diesem Titel ist der Roman im deutschen Sprachraum bekannt, auch der Film trägt ihn, und die umbenannte Figur heißt in der deutschen Synchronfassung Menschenkind. An anderer Stelle habe ich mein tendentiell zwiespältiges Verhältnis zum grundsätzlichen Beibehalten englischer Originaltitel geäußert; in diesem Fall war mir aber sofort klar, dass ich mit der Neuübersetzung auch dieser geisterhaften Figur, Beloved, ihren eigentlichen Namen zurückgeben wollte und damit eine Umbenennung des Buches einhergehen musste. Ähnliche Überlegungen hatte es zum Glück bereits im Verlag gegeben, und so kamen wir rasch überein, das anzugehen.

Beloved“ – so steht es auf dem Grabstein, den Sethe, die Protagonistin des Romans, auf das Grab ihrer zweijährigen Tochter stellt, die sie mit eigener Hand getötet hat, um sie vor einem Leben in Versklavung zu bewahren. Welchen Namen das Kind ursprünglich trug, erfahren wir nicht – auf dem Grabstein steht nur dieses eine Wort, das Sethe den Pfarrer bei der Totenmesse sagen hörte und das ihr wie die Essenz alldessen erscheint, was dieses Kind für sie war. Für das eine Wort hat sie mit ihrem Körper bezahlt. Und so lautet die Schlüsselstelle jetzt in der Neuübersetzung:

„Zehn Minuten für sieben Buchstaben. Ob sie mit noch mal zehn ein «Dearly» dazubekommen hätte? Sie war gar nicht darauf gekommen, ihn [den Steinhauer, der den Grabstein graviert] zu fragen, und bis heute quälte es sie, dass es vielleicht möglich gewesen wäre – dass sie für zwanzig Minuten oder auch eine halbe Stunde alles hätte haben können, jedes Wort, das sie den Pfarrer bei der Totenfeier hatte sagen hören (und mehr gab es ja auch nicht zu sagen), eingraviert auf den Grabstein ihres Kindes: Dearly Beloved. Aber was sie dann bekommen, womit sie sich begnügt hatte, war das eine Wort, das zählte.“8

Mit der traditionellen Formel „Dearly Beloved, we have gathered here today ...“ hat der Pfarrer die Totenmesse eröffnet; Sethe, die zu diesem Zeitpunkt zahllose Traumata in kurzer Folge erdulden musste und in Gedanken nur bei ihrem toten Kind ist, bezieht diese Anrede an die versammelte Gemeinde instinktiv auf eine Person, ihr Kind. In der Erstübersetzung wird diese Passage angepasst, der Pfarrer spricht vom „innigst geliebten Menschenkind“9, und das Wort „Menschenkind“ schafft es auf den Grabstein; die Lösung korrespondiert mit dem über lange Jahrzehnte dominierenden Übersetzungsansatz, möglichst alles ins Deutsche zu bringen, Anreden und Liedtexte zu übersetzen und eben auch Figurennamen zu verändern, falls die Übersetzung das erfordert. Auch ich habe diesen Ansatz gelernt, als ich 2002/2003 mein Aufbaustudium Literarisches Übersetzen absolvierte, und hänge ihm zu Teilen bis heute an, wenn es beispielsweise um Wortspiele und dergleichen geht. Und ich honoriere den Einfallsreichtum, aus dem „Menschenkind“ seinerzeit entstanden ist; wie schwer das gewesen sein muss, kann ich durchaus ermessen, denn auch ich habe lange hin und her überlegt, ob man nicht vielleicht doch etwas anderes finden kann. Naheliegend wäre gewesen, mit der kirchlichen Plural-Anrede „Geliebte im Herrn“ zu arbeiten und die Figur Beloved in „Geliebte“ umzubenennen – damit wäre zumindest die textinterne Herleitung ganz analog zum Original geblieben. Aber anders als das englische „beloved“ ist „Geliebte“ im heutigen Deutsch einfach zu sehr auf den Kontext erotischer Liebe beschränkt und weckt entsprechend missverständliche Assoziationen. Ausschlaggebend war für mich schließlich folgende Überlegung: Gäbe es die Vorgeschichte nicht und wäre das eine Erstübersetzung, hätte ich mich sicher von vornherein dafür entschieden, der Figur ihren Namen zu lassen, und vermutlich gar keine andere Möglichkeit erwogen. Insgesamt ist diese Titelfrage aber ein gutes Beispiel für das eigentümliche Phänomen, dass Übersetzungen schneller altern als ihre Originale. Und auch dafür, dass es manchmal, wie bei den Restaurierungsarbeiten, die die Französisch-Übersetzerin Nicola Denis in ihrem Staying Alive-Essay als Vergleich heranzieht, nötig ist, einige der früheren Übermalungen zu entfernen, um das Originalbild wieder klarer erstrahlen zu lassen.

Jenseits solcher Fragen ließ ich mich auch bei Beloved von Ton und Poetik des Originals leiten. Der Roman hat einen schwer zu fassenden, ungeheuer packenden Ton, seine Sätze, die Entsetzliches schildern, sind einerseits sehr klar und konkret, wenn etwa Paul D von den Fesseln erzählt, die ihm nach der gescheiterten Flucht aus Sweet Home angelegt werden, von dem Eisen, mit dem ihm später auch noch der Mund verschlossen wird, oder von den unmenschlichen Brutalitäten in einer Strafkolonie; sie haben aber zugleich etwas Zartes, Schwebendes, oft Hermetisches und eine schier unerreichbare Musikalität, die mir beim Übersetzen einiges abverlangt hat. Und ich muss sagen, dass mich selten eine Übersetzung emotional so ausgelaugt hat. Damit bin ich nicht allein: In dem bereits erwähnten Interview schildert Toni Morrison, wie es für sie war, zu beschreiben, wie Sethe ihrem Kind die Kehle durchschneidet; wie sie den Satz schrieb und dann aufstand, eine Runde durch ihren Garten drehte, zurück an den Schreibtisch kam, noch ein wenig daran feilte, nur um dann wieder aufzustehen und einen weiteren Gang durch den Garten zu machen. Das kann ich nach meiner Arbeit an ihrem Buch und auch an diesem Satz bestens nachvollziehen. Ebenso wie die kleine Poetik, die sie anhand dieses Satzes für ihren Umgang mit den geschilderten Grausamkeiten formuliert: „Ich fand, die Tat selbst sollte nicht nur verborgen, sondern auch ganz unauffällig bleiben, denn wenn die Sprache zur eigentlichen Gewalt in Konkurrenz träte, dann wäre das obszön oder pornographisch.“10 Vielleicht ist gerade diese Zurückhaltung, diese Umsicht, diese schwebende sprachliche Konkretheit der Grund, dass die (Vor-)Geschichten der ehemals Versklavten Sethe und Paul D in all ihrer menschenverachtenden Grausamkeit, das Schicksal von Sethes Mann Halle, Paul Ds Brüdern und seinem Freund Sixo und auch das von Baby Suggs, einer der charismatischsten Figuren in Toni Morrisons Werk, sowie Sethes Mord an ihrem Kind beim Lesen zutiefst ergreifen und erschüttern, erst recht beim aktiven übersetzerischen Lesen. Beloved ist ein bahnbrechendes, wichtiges und leider immer noch viel zu ungebrochen aktuelles Buch, das es, so wie Toni Morrisons ganzes Werk, unbedingt verdient hat, durch regelmäßige Neuübersetzungen am Leben erhalten zu werden.

Toni Morrison: Sehr blaue Augen. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Rowohlt, 2023.

Toni Morrison: Beloved. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Rowohlt, 2024.

*

„Regelmäßige Neuübersetzungen“ – das schreibe ich ganz bewusst im Plural. Meine eigene Beschäftigung mit Toni Morrison geht weiter, sie ist ein work in progress; geplant sind noch – nicht ganz der Werkchronologie folgend – die Neuübersetzungen von Song of Solomon, Morrisons drittem Roman, und Jazz, ihrem sechsten. Zugleich bin ich mir sehr bewusst, dass auf meine Neuübersetzungen der Werke dieser Autorin irgendwann einmal weitere folgen werden – immer vorausgesetzt, dass die Handwerkskunst des Literaturübersetzens von Menschenhand uns erhalten bleibt. Auch das ist ein spannender Aspekt des Neuübersetzens von Klassikern, zu denen Toni Morrisons Werke längst zählen: Man stimmt ein in diesen Chor und weiß dabei, dass er schon da war, bevor man selbst mitgesungen hat, und dass es künftig weitere Stimmen geben wird, die ihn ergänzen. Ich finde das einen beglückenden Gedanken, er macht mich im besten Sinn demütig dem eigenen Tun gegenüber.

Und er hilft mir auch ein wenig bei der Klärung der noch offenen Frage, die ich zu Beginn dieses Essays gestellt habe: ob ich als weiße Übersetzerin die Richtige bin, eine Schwarze Ikone neu zu übersetzen. So abschließend, wie ich es mir wünschen würde, lässt sich das in diesem Fall nicht klären. Bei meinen Autorinnen Zadie Smith und Bernardine Evaristo, beide Schwarz, beide mixed-race, ist das anders: Ich kenne sie, bin im Austausch mit ihnen und weiß von beiden, dass sie mich als Übersetzerin ihrer Werke sehr schätzen. Bei Toni Morrison kann ich das nicht wissen: Sie ist seit fünf Jahren tot, und ich kann nur hoffen, dass sie meine tätige Auseinandersetzung mit ihrem Werk gutheißen würde.11 Ob ich die Richtige bin, bleibt also fraglich. Aber ich hoffe, zumindest eine Richtige zu sein. Ich bin mir der Verantwortung bewusst, die ich mit diesem Auftrag übernommen habe, und tue mein Bestes. Ich reihe mich ein in den vielstimmigen Chor derjenigen, die Toni Morrisons Werke übersetzt und überarbeitet haben, und wünsche mir, dass er, so vielstimmig er auch noch werden mag, auf lange Zeit hinaus weiter zu hören ist.

 

15.10.2024
Fußnoten
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
PDF

©Anja Kapunkt

Tanja Handels lebt und arbeitet in München, wo sie vor allem zeitgenössische Literatur aus Großbritannien, den USA und anderen englischsprachigen Kulturen übersetzt, beispielsweise Werke von Zadie Smith, Bernardine Evaristo, Kopano Matlwa, William Finnegan, Charlotte McConaghy und Nicole Flattery. Außerdem unterrichtet sie angehende Literaturübersetzer·innen an verschiedenen Universitäten und ist Vorsitzende des Münchner Übersetzer-Forums. 2019 wurde sie mit dem Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Verwandte Artikel
23.10.2023
Village Literature und Ancient Properties
Eine Wiederbegegnung mit Toni Morrisons Tar Baby
17.02.2023
Stimmen zimmern
Journal zur Übersetzung von Bernardine Evaristos Mr. Loverman
19.09.2022
Ein Frauenporträt in der Restauratorinnenwerkstatt
Zur Neuübersetzung von Honoré de Balzacs Cousine Bette
15.06.2021
Von Angst und Mut beim Übersetzen