Steinbrecher: mission possible?
Die Universität, an der ich Germanistik studiert habe und nun seit über 30 Jahren arbeite, ist nach Iwan Franko benannt – Enzyklopädist der Jahrhundertwende, feinsinniger Lyriker, Prosaautor des Realismus, Wissenschaftler, leidenschaftlicher Übersetzer und Autor des programmatischen Gedichts „Die Steinmetze“, weswegen er in der ukrainischen Literatur auch als „Steinmetz“ bekannt ist. Wenn ich über den bedauerlichen Mangel an ukrainischer Literatur in den europäischen Bibliotheken und Buchhandlungen nachdenke, verstehe ich die Kraft des Bildes von den Steinmetzen besser: Sie stehen vor einer schier unlösbaren Aufgabe: den Felsen aufzubrechen, an den sie mit Eisen gekettet sind.
Die Berliner Mauer war offenbar nicht die letzte Mauer, die fallen musste, um die Europäer·innen zu vereinen. Die Ukrainer·innen versuchen heute, eine andere Mauer einzureißen, und zwar die Mauer der Engstirnigkeit und des stereotypen Denkens ihrer westlichen Nachbarn, die zumeist nicht allzu viel wissen über die verschiedenen Gemeinschaften und Ethnien, die seinerzeit im sowjetischen „Vielvölkerreich“ (Andreas Kappeler) vereint waren. Ich bin überzeugt, dass einer der Gründe, warum der Westen uns weiterhin hartnäckig ignoriert, die fehlende Kenntnis unserer Schriftkultur und die unzureichende Verbreitung oder das Fehlen von Übersetzungen ist. Leser·innen, die nichts von der verworrenen, komplexen Geschichte wissen und keinen Zugang zu literarischen Werken aus verschiedenen Zeiten der ukrainischen Existenz haben, sind eher geneigt, der russischen Propaganda von einer „Nation aus dem Nichts“ und einer zweitrangigen Kultur zu glauben.
Eigentlich begann die Ukraine, aus dem tödlichen Schatten ihres riesenhaften Nachbarn zu treten, als sie unabhängig wurde, genauer gesagt, als sie während der Orangen Revolution auf dem Maidan die Geister der Vergangenheit zu vertreiben begann, oder noch genauer, seit die Menschen in der Ukraine für ihre Ideale das Leben lassen müssen, also seit 2014. Wenn man es ganz genau nimmt, begann das endgültige Heraustreten aus dem Schatten Ende Februar 2022, als die Ukraine sich entschlossen zeigte, dem russländischen Aggressor mit aller Kraft zu widerstehen.
„Wo kommen sie denn auf einmal her, woher nehmen sie die Kraft für ihren erbitterten Widerstand?“, hörte man beeindruckte Stimmen von jenseits der Mauer. „Man müsste mal was lesen, was sie da so geschrieben haben, diese Ukrainer.“ Schau hier-schau da, in den Bibliotheken gibt’s nichts, schau hier-schau da, in den Buchläden gibt’s nicht viel. Frag hier-frag-da, kaum einer da, den man fragen könnte, ein paar versprengte Slawisten murmeln etwas vom Leibeigenen Schewtschenko, der es irgendwann bis zum prophetischen Dichter gebracht hat. „Hatten denn die Ukrainer im 19. Jahrhundert tatsächlich schon eine eigene Literatur?“, wundern sich die westlichen Leser·innen. Und sie wundern sich noch mehr, wenn sie als Antwort zu hören bekommen, dass es ja schon vor Schewtschenko schon ein vollwertiges literarisches Leben gegeben hat. Schewtschenkos unglaubliches Talent konnte nicht aus dem Nichts kommen, denn im 18. Jahrhundert, während Peter der Große sich noch in Holland europäisierte, schuf der Barockdichter Iwan Welytschkowskyj auf Ukrainisch bereits filigrane Palindrome, Leistenverse und konkrete Poesie. Katharina II. liquidierte die ukrainischen Kosaken und russifizierte die ukrainischen Kollegien, und Iwan Kotljarewskyj übersetzte auf burleske Weise Vergils Aeneis, wobei er die Trojaner als fröhliche und eifrige Saporoger Kosaken darstellte.
Überhaupt ist die gesamte ukrainische Literatur der 300-jährigen Kolonialzeit eine Art Versuch, den Kopf durch die Wand zu rammen: der Kampf gegen die Zensur und später gegen die zaristischen Verbote, die „äsopische“ Sprache, die heute ohne Kenntnis der entsprechenden historischen und kulturellen Gegebenheiten nur schwer zu verstehen ist, die Publikationen im Westen, die illegalen Werke, d.h. die Entstehung des „samwydaw“, der im Eigendruck illegal veröffentlichten und nur konspirativ zirkulierenden Werke. Sogar dieses Wort hat sich im Westen übrigens in seiner russischen Version – samisdat – eingebürgert, womit die Deutungshoheit der russischen antisowjetischen Literatur zugeschrieben werden soll und die kulturellen Prozesse, die sich in den anderen Sowjetrepubliken vollzogen, ausgeblendet werden. Um den Kontrast zwischen dem literarischen Leben des Westens und der Sowjetukraine zu verdeutlichen, möchte ich einige Fakten gegenüberstellen: 1937 veröffentlichte Tolkien den Hobbit, und aus Anlass des 15. Jahrestages der Oktoberrevolution wurden mehr als einhundert ukrainische Schriftsteller und Kulturschaffende in der Nähe von Archangelsk erschossen; 1981 erhielt Elias Canetti den Literatur-Nobelpreis, und der ukrainische Dichter Vassyl Stus, Nobelpreis-Anwärter, verbüßte seine zweite Verbannung im sibirischen Gulag. Anna-Halja Horbatsch veröffentlichte bereits 1983 Stus‘ auf Deutsch übersetzte Gedichte. Hätte die Welt damals aufmerksamer gelesen, hätte der Tod des Dichters in einem mordowinischen Lager drei Jahre später vielleicht verhindert werden können.
Viele Namen ukrainischer Autorinne und Autoren sind den westlichen Leser·innen nach wie vor unbekannt. Im Nachhinein Übersetzungen all jener längst überfälligen Werke zu veröffentlichen, ist praktisch unmöglich. Wenn wir uns der Vergangenheit zuwenden, verlieren wir die Möglichkeit, zeitgenössische Werke zu übersetzen, nach denen seit 2022 eine erhöhte Nachfrage besteht. Es ist ein Teufelskreis: Ohne die Literatur, die uns geprägt hat und die trotz aller Verbote existierte, bleiben wir die „Klinkenputzer“, eine Nation aus dem Nichts, die nur durch ihre Hartnäckigkeit und ihren Kampfesmut Aufmerksamkeit erregt. Wer sich jedoch für die Verbreitung der literarischen Werke einsetzt, die unser Fundament bilden, verdammt sich quasi selbst, ewig hinterherzuhinken und mit den toten Autor·innen auf dem Abstellgleis der Literatur zu landen. Eine vernünftige Lösung wäre die Einrichtung einer Website nach dem Vorbild der frei zugänglichen Gutenberg-Bibliothek: mit Auszügen beginnen und nach und nach neue und umfangreichere Übersetzungen hinzufügen, mit denen man sich über die Werke des Archipels Ukraine informieren kann. Das wäre übrigens kein schlechter Name für eine zukünftige Seite. Oder besser nicht, denn dieser Name ist bereits für das fantastische internationale Übersetzertreffen reserviert, das Ende August dieses Jahres mit dem Segen des Literarischen Colloquiums am Berliner Wannsee stattfand. In den Gesprächen mit Kolleg·innen aus verschiedenen Ländern wurde deutlich, dass viele Probleme mit fehlenden Übersetzungen von klassischer ukrainischer Literatur haben, ohne die es viel Mühe bereitet, die komplexen aktuellen Probleme, Themen und Anspielungen zu verstehen.
Dieser Text war schon fast fertig, als ich die Nachricht erhielt, dass es ein Projekt gibt, im Rahmen dessen einige Dutzend unbekannte ukrainische Autor·innen – in Auszügen, aber immerhin – vorgestellt werden sollen. „Reclaiming the Voices“ hieß das Programm, das in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse am ukrainischen Stand veranstaltet wurde. Ja, die Ukrainer·innen müssen ihre Stimmen zurückgewinnen, sie haben der Welt etwas zu sagen. Als ich diesen Text zu Ende schrieb, stieß ich auf Tanja Maljartschuks Rede zur Eröffnung des „Denkraums Ukraine“, eines neuen Ukraine-Zentrums an der Universität Regensburg. Die Rede wurde in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt, und ich freute mich, dass Tanja Maljartschuks und meine Überlegungen in dieselbe Richtung gehen. Ihre Zuversicht, dass die dicke Mauer niedergerissen werden wird, bestärkt mich darin, an die Kraft der neuen Übersetzergemeinschaft zu glauben:
„Ich bin mit Texten von Schewtschenko, Franko, Lesja Ukrajinka, Kozjubynskyj, Pluschnyk, Domontowytsch aufgewachsen, Namen, die Ihnen vorerst wahrscheinlich nichts sagen werden. Warten Sie ab, hören Sie uns einfach zu, sprechen Sie unvoreingenommen mit uns – die moderne Ukraine wird einen Weg finden, diese und andere Namen auf eine Weise zu erzählen, die Ihr Interesse wecken wird.“1