Die vielen Leben einer Todgeweihten
Zur Neuübersetzung von Gepäck aus Sand von Anna Langfus
Als 1962 der Prix Goncourt, Frankreichs heute noch breitenwirksamste literarische Auszeichnung, an Anna Langfus ging, hatte sie sich als Theaterautorin und mit ihrem ersten Roman Le sel et le soufre bereits einen Namen gemacht – sechzehn Jahre nach ihrer Flucht aus Polen, wo der alte Antisemitismus trotz der deutschen Niederlage gleich nach Kriegsende wieder aufgeflammt war und viele der wenigen, die die Schoah überlebt hatten, außer Landes trieb.
Anna Langfus wechselte nicht nur von ihrer Geburtsstadt Lublin nach Paris, sie wechselte auch Beruf und Sprache – aus der Textilingenieurin mit polnischer Muttersprache, die außerdem mit dem Jiddischen vertraut war, wurde binnen erstaunlich kurzer Zeit eine sehr ernstzunehmende Autorin französischer Literatur, die sowohl bei der Kritik Anerkennung fand als auch Erfolg beim Publikum. So dauerte es nicht lange, bis ihr erster Roman unter dem Titel Salz und Schwefel im Münchner Lucas Cranach Verlag erschien, von Martha Johanna Hofmann ins Deutsche übersetzt; der Prix Goncourt für den zweiten Roman Les bagages de sables – in der Erstübersetzung von Yvonne Meyer-Haas unter dem Titel Gepäck aus Sand vom Piper Verlag publiziert – sorgte dann in beiden Ländern für mehr Aufmerksamkeit in der Presse.
Liest man die Berichte beziehungsweise Rezensionen in der Zeit oder im Spiegel – damals bereits zwei der einflussreichsten Publikationen in der deutschen Medienlandschaft – fällt auf, wie oberflächlich Autorin und Werk wahrgenommen werden: Während Josef Müller-Marem in seinem Zeit-Artikel über die Vergabe der wichtigsten Pariser Literaturpreise Anna Langfus 1962 als „anmutige Frau mit edlem Gesicht und großen, ausdrucksvollen Augen“ charakterisiert, verliert er kein Wort über die brisanten historisch-politischen Hintergründe, sondern fasst den Inhalt auf so sentimentale wie irreführende Weise zusammen. Dem Spiegel ist dieser preisgekrönte Roman bei Erscheinen der deutschen Erstausgabe 1964 genau einen süffisanten Absatz wert:
„Eine junge Jüdin, deren Familie in Polen umgebracht worden ist, folgt einem betagten Eheflüchtling an die Côte d'Azur. Die beschwerliche und merkwürdige Liaison rettet den Mann nicht vor dem Absterben und befreit das Mädchen nicht von einer unerträglichen Vergangenheit. Der in Paris lebenden ehemaligen Polin Anna Langfus hat das Gemisch an Autobiographie und Sagan-Imitation, gediegenem Zartsinn und gemessener Quälerei den Prix Goncourt von 1962 eingebracht.“
Diese Bewertung ist eine seichte, auf Pointe getrimmte Fehleinschätzung, die sowohl Form als auch Tiefe dieses Textes völlig verkennt. Die Inhaltsangabe ist nicht ganz so verfälschend wie in der Zeit, blendet aber ebenfalls aus, wer die Familie der Protagonistin umgebracht hat – die Eltern kamen in den Ghettos von Lublin und Warschau ums Leben, ihr Ehemann wurde von der Gestapo exekutiert – und für ihre „unerträgliche Vergangenheit“ verantwortlich ist.
Dieser Hang zur Euphemisierung findet sich bereits im Klappentext der deutschen Ausgabe: Dort ist zu lesen, Maria, die zentrale Figur des Romans, habe ihre Angehörigen „in der Zeit der Bedrängnis“ verloren.
Allein diese wenigen Zeilen machen das Nicht-Bewusstsein anschaulich, das in der Bundesrepublik Deutschland herrschte, bevor die 68er-Bewegung zu einer nachhaltigen und anhaltenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beitrug. Und mich bewegte zunächst diese Frage: Inwiefern ist die sehr gut lesbare Erstübersetzung von diesem Kontext des Verdrängens und Verschleierns geprägt? Wie stark hat das Lektorat, das höchstwahrscheinlich auch für den Klappentext verantwortlich ist, eingegriffen? Offenkundig ist das nicht, aber mir fällt beim punktuellen Vergleich meiner Fassung mit der ersten auf, dass ich oft das direktere, härtere Wort wähle, beispielsweise „Leiche“ statt „Leichnam“, dass ich elliptische Sätze im Deutschen nicht immer „auffülle“, auch wenn Ellipsen im Deutschen weniger gebräuchlich sind als im Französischen, und dass ich auch gern kleine syntaktische Widerstände nachbilde, denn sie erinnern nicht nur daran, dass die Autorin hier nicht in ihrer Muttersprache schreibt – wobei ihr Französisch semantisch so reich wie syntaktisch komplex und grammatikalisch korrekt ist –, sondern entsprechen auch dem Widerstand ihrer Protagonistin gegen die trügerische Normalität der Nachkriegszeit und dem Widerstand, den die Autorin selbst zeit ihres Überlebens im Warschauer Untergrund und ihres neuen Lebens im Pariser Exil geleistet hat, zunächst gegen die deutschen Besatzer und dem Schicksal der Vernichtung, später gegen das Vergessen und Abschließen.
Als ich die Lektorin, die Anna Langfus für Deutschland wiederentdeckt hat, fragte, warum sie keine Neuauflage der alten Übersetzung veranlassen, sondern lieber eine teure Neuübersetzung in Auftrag geben wolle, lautete ihre Antwort: weil die Erstübersetzung bereits etwas Staub angesetzt habe. Das trifft an einigen Stellen durchaus zu, und ich war ohnehin schon so gepackt von der kraftvollen Sprache des Originals, der alles Sanfte und Versöhnliche ausgetrieben scheint, von der zutiefst abgründigen Protagonistin, von der Modernität, mit der die Unmöglichkeit geschildert wird, auf andere einzugehen, Beziehungen zu knüpfen, sich in der Welt zurechtzufinden und behaust zu fühlen, dass ich den Auftrag gern angenommen habe, in der Hoffnung, dem Geheimnis dieses Textes beim Übersetzen noch weiter auf die Spur zu kommen als durch reine Lektüre. Tatsächlich hat das „Einschalten der Gegenwartsscheinwerfer“, wie Olga Radetzkaja das Unterfangen einer Neuübersetzung so erhellend beschreibt, dazu geführt, dass ich Maria, der Erzählerin, sehr viel nähergekommen bin, ja viel näherkommen musste, um ihre Haltung zur Welt, zu ihrem Umfeld einzufangen – die gefährliche Nähe zu den Toten, die unüberwindbare Distanz zu den Lebenden – und auch die schroffe Poesie ihres Tons, den surreal anmutenden Horror der Vergangenheit, der regelmäßig die Oberfläche des Alltags in der Nachkriegszeit durchbricht:
Ich verlasse das Café und versuche, gemessen zu gehen. Langsam, langsam … Auf der Straße zerfällt der Tag zu Asche. Die Stadt hat bereits ihr nächtliches Glitzergewand angelegt. Zwei Männer sind in einer Pfütze aus rotem Licht stehengeblieben, und ich höre sie lachen. „Was wir bräuchten, wäre so ein feiner kleiner Krieg …“ Ihr Lachen springt mir hinterher, als ich weitergehe. Eine dicke Frau kommt mir entgegen. Sie sieht mich an und lacht. „Hören Sie, was wir brauchen, ist so ein feiner kleiner Krieg.“ In einem Zeitungskiosk gähnt ein alter Mann. Sein müder Blick fällt auf mich. „Was wir bräuchten, verehrtes Fräulein, wäre so ein feiner …“ Ich fange an zu rennen. Ich begegne einem eng umschlungenen Paar und schnappe dabei ein paar Worte auf: „Liebling, was wäre das für ein Spaß, so ein feiner kleiner Krieg.“ Um mich herum wedelt die Nacht mit ihrem bunten Tand. So ein feiner kleiner Krieg in Rot, in Blau, in Grün … Ich bleibe stehen. Vor mir ragt die weiße Fassade eines Neubaus auf. Eines Neubaus aus prächtigen Quadersteinen. Ich betrachte ihn. Er fängt Feuer. Die Fenster springen auf, es erscheinen farbenfrohe Gesichter, blaue, gelbe, rote, violette … Ringsherum tanzen die Flammen. Schreiende Leiber wirbeln durch die Luft und schlagen auf dem Bürgersteig auf. Das Blut kriecht von einem Leib zum nächsten, wirft Tentakel aus, die einander suchen und finden, sich miteinander verbinden.
Anna Langfus: Gepäck aus Sand. Aus dem Französsichen von Patricia Klobusiczky, Die andere Bibliothek, Berlin 2025, S. 53 f.
Für das Unterfangen gab es allerdings noch einen anderen guten Grund: Seit der deutschen Erstübersetzung sind 60 Jahre vergangen, in denen Leben und Werk, vor allem das Werk von Anna Langfus weltweit intensiv erforscht wurde. So gilt sie, selbst Vertreterin „einer tragischen Dichtergeneration“1, inzwischen als eine der ersten, die neben – ihrem heute ungleich bekannteren Landsmann – Tadeusz Borowski die Erfahrung von Vernichtung und Verlust schon früh auf fiktionale Weise verarbeitet haben und nicht, wie die meisten Überlebenden, zunächst in Form eines Memoirs oder Berichts. Dabei trifft auf die Beweggründe von Anna Langfus vielleicht auch das zu, was die Schriftstellerin und große Geschichtssondiererin Ulrike Draesner in einem Interview2 zu ihrem Roman Die Verwandelten geäußert hat: Ihr zufolge dient die Fiktion als „Schutzmantel“, erst recht, wenn es sich um die spezifische Erfahrung von Gewalt handelt, die Frauen in Kriegszeiten machen.
Doch ob Fiktion oder Memoir – in beiden Fällen handelt es sich um Zeugenschaft, und so ist es nur folgerichtig, dass Anna Langfus von der Forschung in einem Atemzug mit Autoren wie Primo Levi oder Elie Wiesel genannt wird.3 In ihrer Trilogie, die aus den bereits erwähnten Romanen Salz und Schwefel und Gepäck aus Sand sowie dem noch unübersetzten letzten Teil Saute, Barbara (Originalausgabe1965) besteht, rückt sie die Handlung zwar mit jedem Band ferner von dem eigenen Erlebten, im dritten Band besonders augenfällig durch die Wahl eines männlichen Protagonisten, den es als KZ-Überlebenden nach Berlin verschlägt, aber das ändert nichts an der inneren Wahrheit, der sie in verschiedenen Gattungen Ausdruck verleiht. Sie brauchte die literarische Form, um das Unsagbare zur Sprache zu bringen. Ihr Biograf Jean-Yves Potel4 hat viele Menschen befragt, die Anna Langfus persönlich begegnet sind, und so in Erfahrung gebracht, dass sie nie über ihre ermordeten Angehörigen redete. Dafür sind sie in ihrem Romanuniversum als Spuk- und Traumgestalten umso präsenter.
Wurde Anna Langfus 1964 in Deutschland noch als Sagan-Epigonin gehandelt und für ihre schönen Augen gerühmt, dürfte sie 2025 hierzulande auf eine klügere, kundigere, sensiblere Kritik und Leserschaft stoßen. Ihr wäre ein weiteres neues Leben vergönnt – und vielleicht wird sie durch eine Neuübersetzung, die in Deutschland Aufmerksamkeit weckt, auch in Frankreich wiederentdeckt, wo sie seit ihrem viel zu frühen Tod 1966 in Vergessenheit geraten ist, selbst wenn ihr traditionsreicher Verlag Gallimard noch einige Titel lieferbar hält. Es wird Zeit, Anna Langfus, geborene Szternfinkiel, wieder als funkelnden Stern am Literaturhimmel aufgehen zu sehen.
Anna Langfus: Gepäck aus Sand. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Die Andere Bibliothek, Band 481, 2025.