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Horizonte mit fliegenden Menschen oder Horizonte für jene, die fliegen dürfen

Am Abend des 10. Oktober 2024 wurde der Name Han Kang vom Nobelpreiskomitee für Literatur ausgerufen, und in dieser Nacht wurde die vietnamesische Literaturszene um ihren Schlaf gebracht. Als Mo Yan aus China 2012 den Nobelpreis erhielt, gab es weder den Effekt der Mitfreude für den Gewinner noch den des Selbstmitleids und der Selbstmobilisierung wie nach der Verleihung des Nobelpreises an die erste asiatische Schriftstellerin. Könnte es sein, dass vietnamesische Schriftsteller, Kritikerinnen und Übersetzer den Nobelpreis für Han Kang als ein Zeichen dafür sehen, dass auch die vietnamesische Literatur, der es gewiss nicht an hervorragenden Autorinnen und Autoren mangelt, eines Tages eine ähnliche Anerkennung erfahren könnte? Könnte es aus ihrer Sicht sein, dass die Bemühungen der südkoreanischen Regierung um Literatur- und Übersetzungsförderung in den letzten 20 Jahren nun mit süßen Früchten belohnt werden und etwas Ähnliches problemlos auch mit Vietnam passieren könnte?

Immerhin sind in den letzten Jahren einige Namen der vietnamesischen Gegenwartsliteratur auf dem angloamerikanischen Literaturmarkt aufgetaucht und haben eine gewisse, wenn auch bescheidene Aufmerksamkeit erregt. Im Jahr 2022 wurde Thuậns Chinatown von Tilted Axis Press in England veröffentlicht, einem unabhängigen Verlag, der von Deborah Smith gegründet wurde, die zuvor Han Kangs Die Vegetarierin ins Englische übersetzt und damit den International Booker Prize gewonnen hatte. Diese Veröffentlichung bedeutete einen enormen Aufschwung für die Autorin, die bis dahin international eher ein unbeschriebenes Blatt war. Chinatown wurde von PEN Translates gefördert, in den USA vom renommierten Verlag New Directions neu aufgelegt und 2022 in die Liste der 100 wichtigsten Bücher des New Yorker aufgenommen. Seine Übersetzerin Nguyễn An Lý wurde 2023 als erste Vietnamesin mit dem National Translation Award in der Kategorie Prosa ausgezeichnet, der von der Association of American Literary Translators vergeben wird. Eine Reihe solch stolzer Errungenschaften, die wie ein Feuerwerk aufblitzen, muss der vietnamesischen Literaturgemeinde sicherlich neue Hoffnung geben, zumal die letzte Zeit, in der ein Werk der vietnamesischen Literatur übersetzt und international beachtet wurde, ziemlich lange zurückliegt. Das war vor mehr als 30 Jahren, in den 1990er Jahren, mit Bảo Ninhs The Sorrow of War und den Romanen von Dương Thu Hương. Der Übersetzer Trần Tiễn Cao Đăng hat dieses Problem kürzlich in einem Interview auf den Punkt gebracht: „Die vietnamesische Literatur ist fast eine Null auf der Landkarte der Welttiteratur.”

Wird es eine neue Welle von Übersetzungen vietnamesischer Literatur auf dem internationalen Buchmarkt geben? Mit der Gründung von Major Books, einem weiteren unabhängigen Verlag, der 2023 in England etabliert wurde mit dem Ziel, ausschließlich vietnamesische Literatur zu übersetzen und zu fördern, scheint dies möglich. Die erste Übersetzung von Major im Jahr 2024 war Die Chronik des Wassers von Nguyễn Ngọc Tư (ebenfalls von PEN Translates gefördert, übersetzt von Nguyễn An Lý und ebenfalls lektoriert von Deborah Smith), ein Roman voller Poesie aus der Feder der herausragendsten Schriftstellerin der vietnamesischen Gegenwartsliteratur. Hinzu kommt eine Liste nicht weniger spektakulärer Werke, die auf den Tag ihres Erscheinens warten, wie Das Mädchen Kiều von Nguyễn Du (eine neue Nachdichtung), Das Hurenhandwerk von Vũ Trọng Phụng, Alt verstorbene Kinder von Nguyễn Bình Phương etc. Auch das DVAN (Diasporic Vietnamese Artists Network) veröffentlicht Werke der vietnamesischen Literatur, um ihre weltweite Präsenz zu erhöhen, so erschien z.B. 2022 die Kurzgeschichtensammlung Hanoi in Mitternacht von Bảo Ninh (Ü:Quan Manh Ha und Cab Tran) oder 2024 die Sammlung Longings: Contemporary Fiction by Vietnamese Women Writers (Ü:Quan Manh Ha und Quynh H. Vo).

Unabhängig davon, ob sie von kommerziellen oder Universitätsverlagen herausgegeben wurden, haben die oben genannten Werke eine gewisse Aufmerksamkeit erregt und wurden in einigen englischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften rezensiert, in Buchclubs aufgenommen und auf Shortlists für Preise nominiert. Damit beginnt die vietnamesische Literatur, wenn auch zaghaft, im internationalen Literaturbetrieb wahrgenommen zu werden. 

Insgesamt ist leicht zu erkennen, dass alle oben genannten Übersetzungen das Ergebnis der Bemühungen von Einzelpersonen oder, wenn sie von Organisationen stammen, von Organisationen im Ausland sind. Im Gegensatz zu kleineren Literaturnationen, die versuchen, sich auf dem Weltmarkt einen Namen zu machen, wie Taiwan, Südkorea oder sogar innerhalb Südostasiens Indonesien, wo es Übersetzungsinstitute und von der jeweiligen Regierung eingerichtete Übersetzungsfonds gibt, die die Literatur ihres Landes fördern und finanziell unterstützen, fehlt in Vietnam ein solches Übersetzungsinstitut völlig. Ein Ort, der eine „langfristige kulturelle Vision“ hat und dauerhaft und professionell eine Vielzahl von Aktivitäten organisiert, von Literaturfestivals bis hin zu internationalen Buchmessen, um internationale Verlage anzuziehen und die Literatur des Landes vorzustellen. Ebenso fehlt die Vergabe von Preisen für die Übersetzung vietnamesischer Literatur in andere Sprachen sowie die Organisation eines Netzwerks und die Ausbildung internationaler Übersetzer·innen, wie von der Dichterin Kiều Bích Hậu vorgeschlagen.

Als nun Han Kang den Nobelpreis erhielt, war die Schmerzgrenze der vietnamesischen Autor·innen überschritten, die – wie man auf Vietnamesisch sagen würde – jahrelang vergeblich darum geweint hatten, von ihrer Mutter an die Brust genommen zu werden. Kritiker·innen und Übersetzer·innen begannen, sich Südkorea zum Vorbild zu nehmen, und ihre Appelle stoßen bei den zuständigen Behörden nun nicht mehr auf taube Ohren. Kürzlich, im Dezember 2024, schlug der vietnamesische Schriftsteller Nguyễn Bình Phương, Chefredakteur der Zeitschrift Văn nghệ quân đội („Armeemagazin für Kunst und Literatur“) und eine herausragende Figur der zeitgenössischen Literatur, deren Werke noch nicht ins Englische übersetzt wurden, bei einem Treffen mit der vietnamesischen Staatsführung vor, ein vietnamesisches Institut für literarische Übersetzung zu gründen, das vom Kulturministerium verwaltet werden sollte.

Ob aber die Gründung eines Übersetzungsinstituts oder eines solchen Förderfonds tatsächlich dazu beitragen würde, dass herausragende Werke der vietnamesischen Literatur nicht nur auf Vietnamesisch, sondern auch in anderen Sprachen gelesen werden können, bleibt eine offene Frage. Han Kang erhielt den Nobelpreis für ihre „poetische Prosa, die sich intensiv mit historischen Traumata auseinandersetzt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenbart“. Würde dieser Übersetzungsfonds den vietnamesischen Autor·innen neue Horizonte eröffnen oder wären es Horizonte, die nur den Schriftsteller·innen vorbehalten sind, die die Erlaubnis zum Fliegen haben?

Anmerkung des Übersetzers: Der Titel „Horizonte mit fliegenden Menschen oder Horizonte für jene, die fliegen dürfen“ ist die Paraphrase eines Verses aus dem Gedicht thơ mini (deutsch: Mini-Gedicht) des vietnamesischen Dichters Trần Dần (1926-1997). Vietnamesisches Original: Tôi khóc những chân trời không có người bay – Lại khóc những người bay không có chân trời (deutsch: Ich weine um die Horizonte ohne fliegende Menschen – Und weine um die Fliegenden ohne Horizonte)

06.03.2025
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Quyên Nguyễn ist Kritikerin, Übersetzerin, Forscherin und Mitbegründerin und Chefredakteurin von Zzz Review, einer literarischen Website in Vietnam. Sie hat an der Nanyang Technological University in Singapur in englischer Literatur promoviert. Zu den von ihr aus dem Englischen in Vietnamesische übersetzten Autor·innen gehören Raymond Carver, Ian McEwan und Jeffrey Eugenides. Ihr Sammelband über zeitgenössische vietnamesische Literatur in englischer Übersetzung bei Parthian Books (UK) ist in Vorbereitung. Sie ist außerdem Mitglied des P.E.N. American Translation Committee.

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